Hilfe, Selbstvertretung!

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„Autismus hat viele Gesichter“, sagen Menschen und denken „All diese Gesichter sehen aus wie meines/das meines Kindes. Was dem nicht entspricht, kann also kein Autismus sein“.

Wir sprechen inzwischen vom Autismusspektrum. Ohne den Zusatz „Störung“, ohne die auf Außensicht beruhende, diskriminierende Einteilung „leicht“ und „schwer“. Ein weites, abstraktes Spektrum von Autist*innen mit mehr oder weniger großem Hilfebedarf, die eines gemeinsam haben: Eine eingeschränkte Teilhabe am Leben und eine Behinderung, die sie im Alltag beeinträchtigt. Manche so stark, dass sie permanente Betreuung brauchen, andere so, dass sie nur bei Bedarf Hilfe in Anspruch nehmen.
Ein Fortschritt für Autist*innen, mag man meinen. Ein wichtiger Schritt weg vom Tragödienmodell Behinderung, hin zum selbstbewussten Leben mit dem Anderssein. Wenn man aber genauer hinsieht, ist das nur verbaler Zuckerguss auf einem völlig verkohlten Kuchen.

Nicht ohne uns über uns?

Es werden Inklusionsdebatten abgehalten, ohne dass Menschen mit Behinderung zu Wort kommen. Es werden Teilhabegesetze diskutiert, ohne die Lebensrealität behinderter Menschen zu berücksichtigen. Es werden Therapeuten ausgebildet, die während ihrer wenige Tage dauernden Ausbildung kein autistisches Kind zu sehen bekommen. Und doch beanspruchen diese Menschen, die sich in der Behindertenvertretung sehen, die Deutungshoheit für sich, die Macht, für Menschen mit Behinderung zu sprechen, und akzeptieren nicht, dass diese die Vertretung ablehnen und lieber für sich selbst sprechen möchten.
Diese sich selbst vertretenden Aktivist*innen sind Störenfriede gegen „die Sache“, gegen die Art, wie man es schon immer gemacht hat. Sie stellen Dinge in Frage. Sie sind unbequem und laut. Sie wollen die Unmündigkeit, die Bevormundung nicht, die so lange Normalität war. Sie verlangen Veränderung. Jede Veränderung ist beängstigend, das wissen vor allem Autist*innen. Doch Veränderung ist notwendig.
Es wäre absurd, wenn feministische Bewegungen überwiegend von Männern dominiert, wenn schwarze Bürgerrechtsbewegungen von Weißen geführt würden. Ja, Unterstützung durch Nichtbetroffene, auch lautstarke, ist wichtig und essentiell dafür, dass die Sache Gehör findet. Die Strategie und die Veränderungsimpulse sollten aber von den Betroffenen selbst definiert und ihnen nicht von außen aufgezwungen werden.
 Es gibt sehr viele Menschen mit einer oder mehreren Behinderungen. Sie sind da, sie existieren und sie haben Rechte, die sie inzwischen auch einfordern. Eines davon ist das der Selbstvertretung.

Wir wissen, was wir wollen

Wir Aktivist*innen wollen nicht das verstaubte Leidensmodell, wir wollen Selbstbestimmtheit, wollen Selbstvertretung und die Deutungshoheit über unsere Behinderung. Einzelne von uns gehen an die Öffentlichkeit, um genau diese Selbstvertretung zu demonstrieren. Um Aufklärungsarbeit zu leisten, immer mit dem Hinweis, dass wir nur eine*r von vielen sind und niemals alle repräsentieren können. Wir erhalten positive Reaktionen darauf, bewirken Veränderungen. Und wir erfahren Druck, Beschimpfung, Verachtung. In meinem Fall von anderen Autist*innen, doch noch viel mehr von nichtbehinderten Menschen. Dabei wird alles angewendet, um den in der Öffentlichkeit stehenden Menschen mundtot zu machen: Das Absprechen der Diagnose ist am beliebtesten, aber auch Beleidigungen, Lächerlichmachen – nicht mit Argumenten, gerne aber weit unter der Gürtellinie. Silencing nennt man das in der Fachsprache, doch das tut gerade nichts zur Sache. Schlimm ist nur, dass es bei vielen davon betroffenen Menschen wirkt, sie (re-)traumatisiert, sie wieder hilflos macht.

Beschimpfungen sind keine Kritik

Man muss sich immer Kritik gefallen lassen, wenn man sich an die Öffentlichkeit wendet. Niemand hat den Anspruch, von allen bestätigt und geliebt zu werden. Doch es gibt Grenzen. Das ableistische Verhalten anzuwenden, das man sonst so sehr bekämpft, überschreitet diese Grenzen massiv. Das ist der Punkt, an dem ich mich frage, was genau diese uns beschimpfenden Personen, die beruflich und privat mit behinderten Menschen zu tun haben, triggert, was sie dazu bringt, zu behindertenfeindlichen Hassschleudern zu werden. Doch ich komme zu keinem brauchbaren Ergebnis, ich kann nur mutmaßen.
Macht uns behinderte Menschen allein der Bedarf nach Unterstützung für andere schon unmündig? Raubt die Andersartigkeit jeden Anspruch auf Augenhöhe? Haben diese Leute Angst, in ihrer Position als Helfer*innen weniger Bestätigung zu erhalten? Was genau ist für sie überhaupt der Reiz am Helfen? Ist es das scheinbare Machtgefälle, ist es die Dankbarkeit, ist es die Bewunderung von außen?

Hilfe ist nicht gleich Hilfe

Ich habe in meinem Leben verschiedene Arten von Hilfe erfahren. Die bevormundende, unterdrückende Hilfe ebenso wie die gleichberechtigte, unterstützende, die auf Augenhöhe stattfand. Letztere hat mir geholfen, mich aufzurappeln, Selbstbewusstsein zu entwickeln und mich mit mir und meinem Autismus auseinanderzusetzen. Die helfende Person hat meinen Hilfebedarf nie als etwas gesehen, das mich minderwertig und schwach macht, sondern arbeitete stets daran, meine Stärken sichtbar zu machen, vor allem, wenn ich wieder einmal frustriert alles hinwerfen wollte. Aufgrund ihrer Unterstützung habe ich zu schreiben begonnen und mich beruflich entwickelt und verwirklicht. In ihrer Rolle als Helfende hat sie sich nie als jemand gesehen, der über mir steht. Es gab zu keiner Zeit ein Abhängigkeitsverhältnis. Für die Jahre mit ihr bin ich überaus dankbar und ich wünschte, jede*r Mensch mit einer Einschränkung würde einer Person wie ihr begegnen.

Potenziell verdächtig

Durch diese Hilfe bin ich eine Frau geworden, die selbstbewusst mit ihrer Behinderung umgeht und die der Meinung ist, dass man auch ohne das permanente Demonstrieren von Leid und Bedürftigkeit Hilfe in Anspruch nehmen kann. Durch sie habe ich gelernt, dass Hilfe zu erhalten nichts Schambesetztes ist, das mich herabwürdigt oder meinen Wert als Mensch einschränkt.
Ich kann und will für mich selbst einstehen und für mich und die, die es wünschen, öffentlich sprechen. Ich muss kein Bild der Tragödie vermitteln, um als behindert zu gelten. Ich muss dieses fatale Bild des Schicksalsschlags Behinderung nicht nach außen transportieren und damit mich und andere behinderte Menschen demütigen, muss mich nicht permanent über meine Schwächen definieren, denn ich habe ein Recht auf Selbstbestimmtheit und Würde. Und genau das macht mich potenziell verdächtig.

Zwischen den Stühlen

Derzeit erlebt man als Autist*in am eigenen Leib, was das Wort Dilemma bedeutet: Schreibt man über die Kehrseiten des Autismus, die Herausforderungen des Alltags, also über die „schlechten Tage“, wenn man an den Barrieren verzweifelt, läuft man Gefahr, das Tragödienmodell zu befeuern und wird von manchen kritisiert, immer nur zu meckern und zu jammern, einen Opfermythos pflegen zu wollen. Erzählt hat man hingegen von beruflichen Erfolgen, schönen Erlebnissen, Glück in der Partnerschaft, also von den „guten Tagen“, ist schnell jemand zur Stelle, der einem vorwirft, kein Autist sein zu können, denn echte Autisten könnten das alles ja nicht. Die vielen Gesichter des Autismus, von denen wir reden, müssen per Definition alle traurig sein.

Dabei ist es ganz einfach. Autist*in zu sein, ist kein Weltuntergang. Man ist einfach nur Autist*in. Man hat gute Tage, an denen die Barrieren weniger spürbar oder schlichtweg besser zu meistern sind, weil man mehr Kraft zur Kompensation oder mehr Zeit zur Erholung hat. Und man erlebt schlechte Tage. Das ist keine Tragödie, nein das ist das Leben. Aber bitte überlasst es uns Betroffenen, zu definieren, was gute und schlechte Tage sind, was uns hilft und was uns entmündigt, und vor allem: Überlasst uns die Entscheidung darüber, was wir brauchen.

3 Gedanken zu „Hilfe, Selbstvertretung!

  1. Bin ganz Deiner Meinung. Das, was Du beschreibst, trifft auf alle benachteiligten Gesellschaftsgruppen zu: ob es um Flüchtlinge oder Sexarbeiterinnen geht. Augenhöhe ist doch die Basis des Zusammenlebens!

  2. Wunderbare, klare Worte – großen Dank dafür!

    „Unterstützung auf Augenhöhe“ ist ein Stichwort, das in allen Lebensbereichen Gültigkeit haben *sollte*.
    Schließlich sind wir alle Expert*innen in eigener Sache.

    Ich trage gerne dazu bei, aus diesem Konjunktiv ein DEFINITIV zu machen.
    😉

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