Autismuskompetenz bei der CDU/CSU

CDU, CSU, Autismus, Hilfe, behinderung
Autist*innen und ihre Angehörigen wissen es schon lange – nun beschäftigt sich auch die CDU/CSU mit der schwierigen Alltagssituation von Menschen im autistischen Spektrum. Die Lebensqualität von Autist*innen ist oft prekär und es gibt kaum alltagspraktische Hilfsangebote, gleich, ob es sich um die Wohn- und Pflegesituation auffälliger Autist*innen oder um Hilfen des täglichen Lebens für unauffälligere Autist*innen handelt. Einige dieser Probleme sollen laut CDU/CSU gelöst werden, was ich nur begrüßen kann.

Bei einer Expertenrunde zu diesem Problem wurden erste Lösungsansätze erarbeitet. Autist*innen aus der Selbstvertretung waren bei diesem Gespräch jedoch unerwünscht, auch die führenden Forschenden, die das Wohl autistischer Menschen im Blick haben, wurden nicht eingeladen. Auf einen offenen Brief einiger Autist*innen, der daraufhin an den Verantwortlichen gerichtet wurde, gab es bislang leider keine Reaktion.

Die CDU/CSU fordert nach dieser Expertenrunde einen Ausbau der Versorgung durch Autismus-Kompetenzzentren und Elterninitiativen, lässt aber die Meinung und die Wünsche von Autist*innen dabei außen vor. Maria Michalk, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen der CDU/CSU-Fraktion, schreibt:

„Bei dem Austausch wurde deutlich, dass eine qualifizierte, solide Diagnostik für Therapien und die Förderung von Menschen mit Autismus von entscheidender Bedeutung ist. Außerdem muss die qualifizierte Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten weiter vorangetrieben werden, um die Diagnose ‚Autismus‘ zu verbessern. Nach der Diagnose muss es in einem weiteren Schritt dann darum gehen, eine ganzheitliche, interdisziplinäre und lebensbegleitende Beratungsstruktur aufzubauen. Sie muss individuell auf jeden einzelnen Patienten abgestimmt sein.“
(Quelle)

Diese Pläne verlangen eine kritische Betrachtung.
Der Ausbau von qualifizierten Diagnostikmöglichkeiten ist dringend erforderlich, kommt es bei den bisher vorhandenen Stellen doch teilweise zu Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. Auch eine lebensbegleitende, individuell abgestimmte Beratungsstruktur ist wichtig und notwendig. Offen bleibt jedoch, was damit gemeint ist, „die Diagnose Autismus zu verbessern“. Diese Formulierung lässt erahnen, dass unauffälligere Autist*innen aus dem Spektrum gedrängt werden sollen. Das würde auf lange Sicht jene Zahlen schönen, die oft dazu herangezogen werden, um unseriös und fälschlicherweise von einer „Autismus-Epidemie“ zu sprechen und würde dadurch natürlich auch entsprechende Anlaufstellen entlasten. Es würde jedoch auch die Rate an Komorbiditäten wie Depressionen, Angsterkrankungen, Essstörungen, drohenden sozialen Abstiegen und Suiziden – Probleme, die unter unauffälligeren Autist*innen erschreckend verbreitet sind – deutlich erhöhen und somit konkret Menschenleben gefährden.

Eine Bündelung von Hilfeleistungen auf Autismus-Kompetenzzentren schränkt zudem die Wahlfreiheit von Eltern und Autist*innen massiv ein. Diese haben damit nicht mehr die Möglichkeit, sich gegen menschenverachtende Therapie- und Lernmethoden wie ABA, AVT und andere behavioristische Ansätze zu wehren, die ihnen gern mit ethisch fragwürdigen Methoden aufgedrängt werden. Im Gegenteil, diese Methoden würden dadurch weiter etabliert und die Misshandlung von Menschen mit Behinderung in Folge systematisch in ihren Alltag integriert.

„Heute wird davon ausgegangen, dass rund 17 Prozent der Menschen mit Asperger-Syndrom selbstständig leben können. Das heißt umgekehrt: Rund 80 Prozent mit der Diagnose „Asperger“ sind auf fremde Hilfe angewiesen. Hier kann ein Netz bestehend aus Diagnostik- und Kompetenzzentren sowie Elterninitiativen Abhilfe schaffen“

so Maria Michalk weiter, ohne diese Zahl jedoch zu validieren. Es ist anzunehmen, dass sie aus einer Auswertung der Daten bisheriger Autismus-Kompetenzzentren stammen, die jedoch nur einen Teil der Autist*innen erfassen können. Elterninitiativen und Kompetenzzentren garantieren außerdem nicht, dass die Interessen von Autist*innen verfolgt werden und sie zukünftig selbstbestimmt leben können, sondern folgen vor allem dem altmodische Wohlfahrtssystem der Unmündigkeit von Menschen mit Behinderung. Realistische Bemühungen, autistischen Menschen tatsächlich ein Leben in Selbstständigkeit zu ermöglichen und somit positiv auf diese Zahlen einzuwirken, sind nicht geplant.

Ich betrachte es mit großer Sorge, dass es weiterhin keine Lösungsansätze gibt, die Autist*innen in ihrer Selbstbestimmung stärken. Ein Leben komplett ohne Hilfen ist für manche von uns machbar, aber es ist weder leicht, noch angenehm, sondern voller Gefahren und Risiken. Tatsächlich haben die allermeisten selbstständig lebenden Autist*innen einn Bedarf an alltagspraktischer Hilfe. Statt dieser Not nachzukommen, wird lediglich in Betracht gezogen, die Diagnosekriterien zu verengen. Mit fatalen Folgen für die Betroffenen.

Wir sind erschreckend weit davon entfernt, eine neurologische Diversität wie Autismus, die mit einer Häufigkeit von 1% alles andere als selten ist, als normal zu betrachten und den entsprechenden Menschen mit Würde und auf Augenhöhe zu begegnen. Statt Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung durch qualifizierte und lebenspraktische Hilfen zu ermöglichen und ihnen mehr Möglichkeiten zur Selbstständigkeit mit gezielten Hilfsangeboten zu bieten, bleibt ihnen nur die Unmündigkeit in einem defizitorientierten Hilfesystem oder, wenn sie unauffällig genug sind, die erzwungenen Selbstständigkeit ohne Hilfe und mit großen Risikofaktoren für die physische und psychische Gesundheit.

 

 

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