Lebensqualität im Spektrum – dürfen wir glücklich sein?

Eine Angst geht um unter Autist*innen – die Angst vor einem guten Leben, vor Lebensqualität und Glück. Das klingt absurd, ist aber tatsächlich die Folge eines diskriminierenden Systems, in dem Menschen mit Behinderung noch immer leben. Lange Zeit habe ich mich gewundert, wie sehr viele autistische Menschen ihr Leiden internalisiert haben, konnte nicht verstehen, warum sie sich nicht trauen, über positive Erlebnisse und Entwicklungen zu sprechen. Der Grund ist ein Tragischer.

Es gibt einige wenige Ärzt*innen, die sich mit Autismus beschäftigen und dafür plädieren, die Diagnosekriterien dergestalt zu verändern, dass autistischen Menschen, die ihr Leben aufgrund von Hilfen, Bildungsangeboten und Unterstützung selbstbestimmt meistern, die Diagnose wieder aberkannt wird. Diese Idee zeugt von einer grundlegenden Unkenntnis über das Leben von Menschen mit Behinderungen.

Defizite verschwinden nicht

Dass diese Idee Autist*innen in Angst und Schrecken versetzt, ist nur verständlich. Eine Aberkennung der Diagnose – was derzeit nicht möglich ist – bedeutet, denkt man es weiter, auch den Verlust diagnosebedingt gewährter Hilfen und Unterstützungen und würde die dadurch entstandene Lebensqualität  zerstören. Der autistische Mensch, der nach Aberkennung der Diagnose Autismus ja noch immer autistisch und auf Hilfe angewiesen wäre, stünde somit vor den Trümmern seines bisherigen Lebens. Mit der Drohung dieser Ärzt*innen werden autistische Menschen auf eine erschreckende Weise unterdrückt und in ihrer Lebensführung beeinflusst.

Schlimmer noch: Sie befeuern damit einen Kreislauf, an dessen Ende zu oft der Suizid steht. Menschen mit Leidensdruck erhalten Hilfen, die Lebensqualität steigt, das Leid wird aberkannt und die Hilfen entfallen, wodurch sich wieder ein massiver Leidensdruck aufbaut, der nur durch Hilfen verringert werden kann, deren Effizienz wiederum zu einem Wegfall dieser führt.
Defizite, die verringert werden, verschwinden nicht. Teilhabe, die man durch Barrierefreiheit erlangt, kann wieder genommen werden, wenn die Barrieren wieder entstehen.

Autismus eine leicht erhältliche Modediagnose zu nennen, die wahllos vergeben wird und deren Kriterien daher angepasst werden müssen, ist so falsch wie diskriminierend. Es spricht Diagnostiker*innen die Kompetenz ab und verharmlost das autistische Sein zu einer Marotte, mit der man sich gern schmückt. Das steht in einem gravierenden Widerspruch zum tatsächlichen Leben mit Autismus. Die gestiegenen Diagnosezahlen, die gern zur Begründung dieses ableistischen Mythos herangezogen werden, sind vor allem auf ein gesteigertes Bewusstsein und die zunehmende Kompetenz in diesem Fachbereich zurückzuführen und sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass Menschen im Spektrum ein besseres Leben führen können.

Ich bin persönlich von der Wichtigkeit einer fachärztlichen Diagnostik überzeugt, denn über die Erklärung für das Anderssein hinaus bekommt man durch sie teils überlebensnotwendige Zugänge zu autismusgerechten Hilfen und Unterstützungen – angefangen von Nachteilsausgleichen und Schulbegleitungen, über Ergo- und Logopädie, hin zu Begleithunden und Betreuungen. Aber diese Zugänge sollen dauerhafte Hilfen bieten und Möglichkeiten eröffnen. Man nimmt ihnen den Sinn, würde man sie nach dem Erreichen dieser Ziele wieder streichen.

Unsichtbarer Autismus

Autismus ist eine unsichtbare Behinderung, man kann sie von außen kaum erkennen. Selbst bei auffälligen Autist*innen mit Betreuungs- und Pflegebedarf ist nicht sofort offensichtlich, dass sie neurodivers sind. Autismus zu erkennen setzt also eine hohe Kompetenz und Sensibilität der entsprechen Fachärzt*innen voraus, besonders, wenn es um erwachsene Verdachtsautist*innen geht, die ihr Leben lang versuchen mussten, so normal wie möglich zu wirken und deren Masken und Kompensationsversuche wie eine zweite Identität geworden sind – eine, unter der sie oft kaum atmen können. Je besser nach außen hin kompensiert wird, desto schwieriger lässt sich das autistische Sein erkennen.

Nicht immer ist der Zweifel, dass jemand autistisch ist, böswillig. Schließlich orientieren sich die meisten Unbetroffenen an Klischees wie Rain Man, wenn sie mit Autismus konfrontiert werden. Selbst unter diagnostizierten Autist*innen führt Lebensqualität dazu, dass der Autismus anderer angezweifelt wird, vor allem, wenn sich Autist*innen öffentlich und medial äußern – eine Aufgabe, bei der Kompensation und Masken selbstverständlich zum Tragen kommen, denn Öffentlichkeitsarbeit ist in hohem Maße zehrend und anstrengend, aber auch notwendig und mit hoher Verantwortung besetzt.

Fragile Systeme

Viele Autist*innen können ein Lied davon singen: Ist man berufstätig, vielleicht sogar in verantwortungsvollen Positionen, muss man funktionieren. Mir wurde am Arbeitsplatz zum Beispiel gesagt, ich sei extrovertiert, was mich staunen ließ. So sehr kann ich mich noch immer verstellen? Ich treffe häufig auf Ungläubigkeit, wenn ich im Berufskontext sage, dass ich im Spektrum liege. “Aber du betreust und berätst große Kunden? Du verstehst dich mit deinen Kolleg*innen? Man merkt es dir gar nicht an?” Was Unbetroffene dabei nicht wissen: Das sind häufig Automatismen, die man sich über mehrere Jahrzehnte angeeignet, sprich mühsam erlernt hat. Dahinter steckt oft die sehr, sehr große Anstrengung, sich anzupassen, die eigene Individualität zugunsten von Akzeptanz hintenan zu stellen. Man ist den Großteil des Tages damit beschäftigt, zu kompensieren. Das Ergebnis ist, dass ich in solchen Augenblicken, wenn es harmlos heißt, “Mensch, du Autist, das hätte ich nicht gedacht”, sehr viel Zeit und Energie investieren muss, mich dafür zu rechtfertigen, um nicht massiv missverstanden zu werden. Denn lediglich von Außen sieht meine Existenz einfach aus. Dahinter steckt ein durchdachtes und empfindliches System. Nur das engste Umfeld weiß, wie viel Kraft und Energie in die bloße Existenz investiert werden muss.

In Österreich gibt es keine nennenswerten Hilfen für Menschen mit Autismus. Der Umzug von Deutschland bedeutete für mich, meine bestehenden Hilfen zur Barrierefreiheit zu verlieren. Ich habe mir daher ein Netzwerk an Unterstützung aufgebaut.  Stringent eingehaltene Routinen und Abläufe strukturieren den Alltag in einer Art, in der ich ihn bewältigen kann. Freunde übernehmen Telefonate und begleiten mich zu Terminen, sollte das nötig sein. Lieferdienste erleichtern den Alltag und im beruflichen Umfeld gibt es verständnisvolle Ansprechpartner*innen, die für Barrierefreiheit und Inklusion sorgen. All das bildet ein funktionierendes, aber fragiles System, das mit dem Wegfallen nur einer Komponente nicht mehr funktioniert. Die eigene Lebensqualität ist permanent in Gefahr.

Autistisch und glücklich

Eine Diagnose, die für Außenstehende bestenfalls zu ungläubigem Staunen und schlimmstenfalls zu Vorstößen führt, Diagnosen abzuerkennen, ist das Ergebnis des Zusammenspiels von harter Arbeit, kräftezehrender Kompensation und günstiger Umweltfaktoren, die man nur bedingt beeinflussen kann. Sie verlangt in weiten Teilen eine Verleugnung des eigenen Seins, wenn es dem beruflichen Weiterkommen dient.
Trotz aller Barrieren im Alltag gibt es Momente, in denen es einem gut geht, man zufrieden ist, vielleicht sogar glücklich, und trotz aller Barrieren kann man beruflich und privat Erfolge feiern. Jeder dieser Momente ist mehr als verdient und ein Grund zur Freude – für Fachärzt*innen ebenso wie für Autist*innen selbst. Behinderung und Lebensqualität dürfen sich nicht weiter ausschließen.

Am Ende stehen für mich vor allem drängende Fragen: Warum soll es autistischen Menschen nicht möglich sein, ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen? Warum führt eine hart erkämpfte Lebensqualität dazu, dass sie einem genommen werden soll? Und warum nehmen wir diese lebensverändernde Diskriminierung noch hin?

4 Gedanken zu „Lebensqualität im Spektrum – dürfen wir glücklich sein?

  1. So war, diese spricht mir aus tiefster Seele!! Was Hilfen anbelangt, so kann ich nicht mitreden, da ich nicht wirklich welche hatte (diagnostiziert 1979 nach 22 Monaten Kinderpsyiachatrie mit insgesammt 2 Tagen Schule). Das was ich heute habe, habe ich mir selbst aufgebaut. Es ist zwar nicht wirklich viel, aber selbst mit dem erlebe ich immer wieder, was du Autist, das kann doch nicht sein.

    Vielen dank für das was du schreibst, ich selber kann das nicht, aber ich finde mich in diesen Essays oder wie auch immer das genannt wird immer wieder aufs neue 🙂

  2. Glück? Zufriedenheit schon eher, aber nur temporär. Die Strategie heißt, einfach durchkommen, gute Tage sind die Tage wo ich wenig Kontakt mit der Außenwelt habe. Das klingt befremdlich, aber die Höchstleistung des simulieren fällt dann weg. Was simulieren ? Dass nicht Autist sein. Man will ja seine Ruhe haben, also nicht auffallen. Das nicht auffallen ist das Problem, Autist in der Öffentlichkeit zusein ist die Stigmatisierung schlechthin. Das funktioniert maximal 3-4 Stunden dann fällt die Maske. Desto komplexer die sozialen Situationen sind desto schwieriger wird es. Desto schneller bin ich überfordert,es ist sehr schwierig einem Arzt, Therapeuten oder Gutachter der erklären was es bedeutet das normal sein zu imitieren. Die Letzteren sind die gefährlichen für unser eins. Sie bestimmen über Schwerbehinderung Erwerbsminderung oder Anspruch auf andere Unterstützungsleistungen zur Teilhabe. Die Befürchtung diese Leistungen aberkannt zu bekommen kenne ich laufend. Meine berufliche Existenz verdanke ich der Schwerbehinderung. Hätte ich diese nicht wäre ich ausgemustert, nun passe ich mich gut an im betrieblichen Umfeld erbringende Leistung und schon muss ich bangen dass sich diese verliere. Da meine Gutachter schlichten weg kaum eine Vorstellung haben, was ich leisten (muss) oder besser gesagt kann. Wer bildet diese Profis aus wer vermittelt Ihnen das Handikap dass wir haben. Die Professionalität der angeblichen Autisten Kenner ist zum Teil erschreckend. Die Therapiebetrieb ist zum großen Teil ohne Kenntnis von dem was die Betroffenen unter diesen erleiden dürfen. Und was ihre wahren Bedürfnisse sind und wie es sich anfühlt normal zu spielen. Daher ist von Marlies die aufgezeigten Probleme die grausame Realität.

  3. Ich möchte als erstes ein großes Danke sagen, es ist nicht leicht für Personen die nicht im Spektrum sind – die Dinge so wahrzunehmen. Ich kann mir nur im Ansatz vorstellen welch ein extremes Druckempfinden es in dieser Welt sein muss.. und ich zolle jedem einen riesen Respekt. Durch einen mir sehr nahestehenden Freund fand ich den Weg in diese Facette des Lebens, und es ist mir wichtig zu verstehen wie er Dinge wahrnimmt- und/oder welches Ausmaß das ’normal‘ sein wollen hat. Erschreckender Weise finde ich es sehr traurig, dass eine so ‚aufgeschlossene‘ Gesellschaft noch immer nicht versteht dass diese Welt mehr bietet als den eigenen Tellerrand. Ich habe einige Artikel gelesen.. heute, vor Wochen.. Monaten. Und doch sind es diese Berichte von ‚Betroffenden‘ die mir mehr helfen, als das Fachchinesisch welches in meinen Augen so oft abwertend wirkt. Es ist alles so negativ belastet, dabei sollte es wie viele andere Dinge als etwas natürliches gelten.
    Ich danke ebenso für das Kommentar von K.G.Hamilton.. welches mich ebenso innehalten ließ, mich selbst reflektieren und dann _Ihn. Ihr seid der Grund wieso Personen wie ich, lernen zu verstehen und eine Barrierefreiheit schaffen können, damit man runterfahren kann – und man selbst sein.
    Danke für Eure Zeilen.
    A.C.

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