Was tun, wenn Schüler Autismus haben?




Mit einem unentdeckten Autismus zur Schule zu gehen ist furchtbar, davon weiß nahezu jeder Mensch mit Autismus zu berichten. Mit einem diagnostizierten Autismus zur Schule zu gehen, scheint inzwischen aber die schlimmere Variante zu sein. Beinahe täglich lese ich von frustrierten Eltern autistischer Kinder und Kinder mit anderer Behinderung – ein aktueller Stern-Artikel zeichnete ein besonders düsteres, wie reales Bild – denen Inkompetenz vorgeworfen wird, weil sie auf die Bedürfnisse ihres Kindes hören. Eltern, die bevormundet werden und denen ein den häufig völlig unterschätzten Fähigkeiten des Kindes angepasster Bildungsweg verwehrt wird. Ihre teils jahrelangen Kämpfe bleiben nicht selten ohne Erfolg.

Nun gibt es hin und wieder gute Ansätze, die zum Beispiel autistischen Kindern helfen sollen, in einem Klassenverband einer Regelschule zurechtzukommen. So erarbeiteten Studierende der Julius Maximilians-Universität Würzburg eine Broschüre mit Erklärungen, Hilfemaßnahmen und Beispielen. Doch dieses Material wirft Fragen auf.
Bedenklich ist zu allererst, dass diese Broschüre offenbar ohne die Zusammenarbeit mit autistischen Menschen entstand. Noch immer ist es nur allzu üblich, über und für Menschen mit Behinderung zu sprechen, nicht jedoch mit ihnen. Sie selbst sprechen zu lassen, sie selbst sagen zu lassen, was sie wollen und brauchen, scheint undenkbar. Genau das ist am deutlichsten zu spüren, wenn man sich mit dem erarbeiteten Material beschäftigt: Die Intention ist lobenswert, die Umsetzung jedoch erschreckend, denn sie geht an der Lebensrealität autistischer Menschen vorbei. Dass der Text so formuliert ist, als würde ihn das autistische Kind selbst sprechen oder schreiben, erscheint an dieser Stelle umso befremdlicher.

Hilfsmittel?

Die Studierenden führten mehrere Hilfsmittel für SchülerIn und Lehrpersonal auf, unter anderem einen Würfel mit verschiedenen Smileys. „Gefühlewürfel“ zur symbolhaften Darstellung der eigenen Emotionen sind theoretisch ein gutes Hilfsmittel. Dabei wurde allerdings nicht bedacht, dass ein autistisches Kind nicht immer in der Lage ist, seine Gefühle gleich zu identifizieren und zuzuordnen. Oft sind diese derart überwältigend und intensiv, dass das Kind Zeit und Abstand braucht, um sich ihrer bewusst zu werden. Klasse und Lehrpersonal werden jedoch auf die sofortige Nutzung des Hilfsmittels bestehen, denn damit muss es ja schließlich klappen, oder?

Die ebenfalls in der Broschüre aufgeführten Verhaltensziele, die mit dem autistischen Schüler definiert werden sollen und deren Einhaltung mit Belohnungen, zum Beispiel dem Nachgehen des Spezialinteresses motiviert wird, erinnern beunruhigend stark an behavioristische Maßnahmen wie ABA. Erträgt der Schüler/die Schülerin überfordernde Situationen, wird er/sie mit einer „Freundlichkeitskarte“ belohnt. Verhält er/sie sich autistisch, wird die Karte zur Strafe weggenommen. 
So weit, so merkwürdig.
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Besonders erschreckend ist jedoch der im Material enthaltene „Verhaltensvertrag“, den das autistische Kind mit dem Klassenverband abschließen muss.  An dieser Stelle geschehen gleich mehrere erschreckende Dinge:
Der Vertrag besteht nur aus Forderungen an das autistische Kind, das Lehrpersonal willigt ein, sich professionell zu verhalten, was genau genommen selbstverständlich sein sollte. Das Kind wird durch dieses Schriftstück von der Klasse separiert und als behinderter Mensch, der nur mit Verträgen, Belohnungen und Bestrafungen unter Kontrolle zu halten ist, abgestempelt. Es wird ein Machtgefälle zu Ungunsten des autistischen Kindes aufgebaut, bei dem es auf der schwachen, defizitären Seite steht. Des weiteren wird durch einen solch demütigenden Vertrag ein massiver Druck auf das Kind aufgebaut, die natürlichen autistischen Verhaltensweisen, die zu seinem Wesen gehören und zu seinem Wohlbefinden und Funktionieren beitragen, zu unterdrücken. Es wird vertraglich eine Anpassungsleistung gefordert, die für das Schulkind eine enorme Kraftanstrengung und eine Verleugnung seiner selbst bedeutet. Auch, wenn das nur ein spielerischer Vertrag ist, so kann er doch einen massiven Stressauslöser für das Kind darstellen, denn Regeln zu ernst zu nehmen ist nichts, was autistischen Menschen fremd ist. Das Kind wird pathologisiert und jedes an den Tag gelegte Verhalten wird bewertet. Man stelle sich vor, dies würde mit einem nichtbehinderten Kind gemacht – der Aufschrei und das Entsetzen wären enorm. Das pausenlose Beurteilen jedweden Verhaltens durch Smileys und Tierbilder lässt das Kind unter permanenter Beobachtung und Erwartungshaltung stehen – etwas, das man einem nichtbehinderten Kind nie zumuten würde. Warum also muss ein autistisches Kind so etwas ertragen?

Druck macht keine autistischen Diamanten

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Dieser permanente Druck und dieses dauerhafte Fordern von Anpassung und Leistung bewirkt bei Menschen mit Autismus vor allem eines: Das genaue Gegenteil. Druck verstärkt in der Regel die autistische Symptomatik, die doch so unbedingt abgestellt werden soll. Autistische Menschen geraten dann in eine Spirale aus auffälligem Verhalten, (Auto-)Aggression, Ängsten und Depressionen. Autistischen Kindern wird auf diese Art wieder einmal vermittelt, dass ihre Behinderung schlecht ist und sie ausgrenzt. Sie wird rein defizitär betrachtet und als etwas behandelt, was versteckt werden muss. Wo Inklusion nötig ist, geschieht ein mutwilliges Ausschließen.

Im Namen der Inklusion?

Diese Broschüre ist vor allem eine Maßnahmensammlung, ein Druckmittel für das autistische Kind. Weder wird Augenhöhe vermittelt, noch Akzeptanz angestrebt. Beides aber ist bitter nötig, um Menschen mit Behinderung nicht weiter wie Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Inklusion meint eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft, ohne Unterschiede oder Abweichungen zu thematisieren. Inklusion meint nicht ein von demütigenden Regeln und Strafen geprägtes Ertragen jeder, die durch Autismus oder anderen Behinderungen von der Masse abweichen. 



Die Arbeit der Studierenden der Julius Maximilians-Universität Würzburg ist somit leider kein Beitrag zur Inklusion, im Gegenteil. An dieser Stelle muss ich meine “Freundlichkeitskarte” wohl abgeben.

10 Gedanken zu „Was tun, wenn Schüler Autismus haben?




  1. Was ich an diesem Verhaltensvertrag besonders perfide finde der dort geschlossen wird, ist das er zwischen dem Kind und der ganzen Klasse geschlossen wird, und das das Kind auch noch unterschreiben muss das der Lehrer auf Fehlverhalten mit Konsequenzen reagiert.

    Von normalen Kindern erwartet man nicht das sie zustimmen bestraft zu werden.

  2. Danke Marlies, wunderbar zusammen getragen. Selber bin ich uralt und habe meine Diagnose erst ein paar Jahre. Zuerst hatte ich die Hoffnung, dass, da mein Problem nun einen Namen hat, mir besser geholfen werden kann, aber der Anteil der Personen, die mir Unterstützung bieten, ist gleich gering geblieben, und es kommen jähzornige Reaktionen von Menschen, die Autismus als Ausrede ansehen, und einen deshalb extra mal­t­rä­tie­ren.
    Menschen von staatlichen und medizinischen Hilfsorganisationen! Armes Deutschland ….

  3. Danke für die wunderbare Zusammenfassung! Ich kann dazu nur sagen, dass ich mir drei mal überlegen würde, ob ich in der Schule bekannt gebe, dass mein Kind Autist ist. Wenn es keiner weiß, kann auch keiner seltsame Maßnahmen ergreifen. Wir haben das Glück, dass unser Kind nicht in dem Sinne „auffällt“, also zu sehr aus der Norm abweicht. Klar fällt sie auf, klar gibt es Situationen, die „brenzlig“ sind, klar gibt es immer wieder Fälle, in denen das Verhalten nicht „angemessen“ ist. Aber da kommen wir derzeit noch leichter durch, wenn sie keinen Stempel trägt.

    Ich habe im Moment das Gefühl, dass es durch irgendwelche HIlfsmaßnahmen in der Schule nicht besser würde. Das Kind kommt zurecht, hat Ansprechpartner und wird von den meisten Mitschülern mittlerweile so akzeptiert, wie sie ist. Ganz ohne besondere Behandlung. Wir tun alles, um ihr Selbstbewußtsein zu stärken und ihr Kraft zu geben, den Alltag durchzustehen. Das wirkt sich aus. Und es ist gut so! 🙂

    Bis vor ein paar Jahren habe ich mich immer gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, hätte ich meine eigene Diagnose schon als Kind oder Jugendlicher bekommen. Ob dadurch vielleicht vieles einfacher gewesen wäre. Aber mittlerweile glaube ich, dass sich damit nicht viel zum Besseren geändert hätte. Wohl eher im Gegenteil. Abgesehen davon, dass in meiner Schulzeit (1980er Jahre) so was wie eine Asperger-Diagnose wahrscheinlich überhaupt nicht zustande gekommen wäre.

    Besondere Kinder integrieren ja, wenn die Klassengemeinschaft und die Lehrer vorurteilsfrei mitziehen (selbst schon erlebt). Wenn das „behinderte“ Kind dadurch nur noch weiter ins Abseits gedrängt wird. Nein.

  4. Danke

    Meine vier Kinder sind an den Schulen geoutet. Weil es zu viele Probleme gab und gibt. Da führte kein Weg drum rum. Und etwas ähnliches, wie die oben genannten „Programme“ haben wir schon erleben müssen. Einmal war sogar die Aufnahme an einem Regelgymnasium an einen Vertrag (ähnlich dem verlinkten) gekoppelt. Und es war grausam.

    Als Mutter kann ich nur davon abraten, wenn Lehrer mit diesen Vorschlägen kommen, darin einzuwilligen.

    Wenn man in das Literaturverzeichnis der Broschüre schaut, sieht man zT sehr veraltete und restriktive Beispiele.

    Neuere Literatur, die das autistische Sein (ob nun von Autisten/innen oder Fachleuten geschrieben) beleuchten wurden nicht genutzt. Leider!

    Weiter fehlen mir in der Broschüre Hinweise, wie der Lehrer etwas für das autistische Kind tun kann. Wie er Unterricht verständlich gestalten, Aufgabenstellungen konkretisieren und seine Sprache auf autistische Bedürfnisse ausrichten könnte.
    Auch wird nirgendwo darauf hingewiesen, wie man in der Klasse für einen guten Umgang sorgt und Mobbing vorbeugt. Oder wie man Gruppenarbeiten gestaltet.

    Alles elementare Dinge für autistische Schüler.

  5. Als Mutter eines Kindes mit ASS finde ich die Kritik mehr als berechtigt (der Gefühlswürfel ist doch ein Witz!), dabei hätte ich selbst liebendgerne einen Leitfaden und am besten noch einen für die Lehrer! Mir drängt sich nun die Frage auf, warum steht Eure Kritik hier? Habt Ihr sie auch mal an Frau Carl und ihre Studenten bzw. an den Menschenskinder-Verein geschickt? Vielleicht haben die noch nicht gemerkt, dass es es durchaus eine Menge Menschen mit Autismus gibt, die absolut in der Lage sind, ich auszudrücken und Dinge zu vermitteln?! Traurig, dass anscheinend immer noch so unterrichtet wird. Da hilft sicherlich nur Engagement!

  6. Hmm… als ich meine Diagnose bekommen habe, hatte ich Angst. Es war zwar eine sehr vage Angst, aber es war im Großen und Ganzen Angst davor, dass sich jetzt irgendetwas in meinem gewohnten Lebensablauf ändern könnte.
    Dieser „Verhaltensvertrag“… ich glaube, er ist der beste Ausduck dafür, wovor genau ich Angst hatte… einen solchen Vertag unterzeichen zu müssen(!) wäre die Erfüllung aller meiner schlimmsten Befürchtungen in diesen Moment gewesen. Heute sage ich: Zum Glück ist nichts derartiges passiert.

    An Eltern autistischer Kinder: Tut das eurem Kind nicht an.
    Lasst sie oder ihn selbst entscheiden, ob und wen sie oder er die Diagnose mitteilt.
    Zwingt ihr oder ihm nicht einfach so irgendwelche Maßnahmen auf, über die sie oder er keine Kontrolle hat.
    Für mich wäre das die Hölle gewesen, und ich bin nur ziemlich leicht betroffen.
    Ich kann mir kaum vorstellen, wie das für Autisten sein muss, die mehr Probleme haben als ich.

  7. Danke (wieder einmal) für diesen Artikel!
    Um es von meiner Seite aus kurz zu machen:

    Hier handelt es sich eher um erzwungene Assimilation, anstatt um Inklusion. Eltern sollten sich unbedingt, ihrem Kind zu Liebe, dagegen wehren!

    LG, Aada

  8. Von unseren vier Kindern ist eines Autist – wir haben zum Glück noch keine solchen absurden Vorschläge oder Forderungen bekommen.

    Einen „Antrag“ auf Nachteilsausgleich, der konkrete Vorschläge für die Klassen- und Fachlehrer beinhaltet, haben wir der Klassenkonferenz, die über derlei Dinge entscheidet, an die Hand gegeben und werden das Ganze weiter beobachten.

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