Neue Normalitäten

Seit einigen Tagen sind die Ausgangsbeschränkungen in Österreich gelockert. Menschen drängen wieder nach draußen, genießen die Frühlingssonne und suchen in den Einkaufsstraßen und den Parks nach einer neuen Normalität. Doch wie sieht sie aus? Ist es für alle die selbe?
Die Welt hat sich in den vergangenen 47 Tagen verändert und wir mit ihr. Viele Nichtbehinderte haben das erste Mal bewusst eine Behinderung ihres Alltags gespürt.

Diese Einschränkung ist etwas, das Autist*innen und Menschen mit anderen Behinderungen bereits ihr Leben lang kennen. Von anderen Menschen distanziert sein, ein isoliertes Leben zu führen, sich nicht frei außerhalb der eigenen Wohnung bewegen zu können – das gehört alles zum Alltag eines behinderten Menschen.
All das geschieht in der Regel aber nicht freiwillig, sondern durch künstlich geschaffene Barrieren, die keine oder nur wenig Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlauben. Bei diesen Barrieren geht es allerdings nicht nur um Treppen ohne Rampen oder Gebäude ohne Blindenleitsysteme – sie können weitaus subtiler sein. Fehlende elektronische Kontaktformulare, nicht genehmigte Assistenz oder auch einfach eine behindertenfeindliche Einstellung des Gegenübers. All das schließt Menschen aus.

Die Krise als Chance?

Die Covid-Krise sei eine Chance für einen gesellschaftlichen Wandel, sagen manche. Sie sei ein Katalysator für Solidarität, ein Anlass, eine stärkere, gerechtere Gesellschaft zu bilden. Sich auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist: Das miteinander und füreinander.

Für mich persönlich haben sich in den letzten Wochen neben den Schwierigkeiten, Ängsten und Problemen tatsächlich einige positive Veränderungen ergeben. Termine mit Ärzt*innen finden telefonisch statt, Rezepte werden über die E-Card weitergeleitet. Das anstrengende Händeschütteln entfällt ebenso wie absichtliche oder unabsichtliche Berührungen von Fremden. Die meisten Menschen weichen aus, um den empfohlenen Abstand zueinander zu wahren. Überraschenderweise sind Gespräche, bei denen alle einen Mund-Nase-Schutz tragen, weniger anstrengend für mich. Das Interpretieren der Mimik entfällt und ich kann mich mehr auf das gesprochene Wort konzentrieren – ganz, wie es für meine autistische Art zu kommunizieren üblich ist. Ich belege Kurse und Schulungen online, arbeite von zu Hause, und das alles mit geringerem Kraftaufwand. Das steigert natürlich meine Lebensqualität.

Gemüsesmoothies im Homeoffice

Online passiert aber noch mehr. Über Instagram schleicht sich ein neuer Begriff in unsere Köpfe: Der Corona-Body. Wer nicht schlank und fit bleibt, zählt zu den Verlierer*innen und wird öffentlich mit diesem neuen Wort beschämt. Yoga-Challenges, Diäten, Joggingstrecken, Gemüsesmoothies fluten die Feeds und setzen all jene unter Druck, die von Sorgen gelähmt sind oder gerade nicht die Kraft, das Geld, die Zeit oder den Willen haben, sich zu “optimieren”.

Nicht nur auf Instagram entsteht der Eindruck, dass das neue Miteinander eine Illusion ist. In den Köpfen der Menschen werden scheinbar neue Grenzen gezogen. Man bildet neue Gruppen und setzt alles daran, in jener zu sein, die besser positioniert ist. Besser, gesünder, leistungsfähiger.

Es gibt die vermeintlich Gesunden, die nicht Eingeschränkten, die nach und nach ihre Teilhabe zurückerlangen, während sie von Risikogruppen erwarten, dass diese sich freiwillig isolieren und auf gesellschaftliche Teilhabe zu ihrem und aller Schutz verzichten. Statt Lösungen zu finden, die alle gleichberechtigt berücksichtigen, wird Risikogruppen geraten, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden und im Zweifel lieber daheim zu bleiben. Alte Menschen werden kritisch beäugt; man fragt sich, warum sie sich der Gefahr aussetzen, warum sie einkaufen gehen, auf Bänken sitzen und nicht daheim, dort, wo man sie nicht wahrnimmt. Manche Menschen haben sogar jeden Funken ethisches Denken verloren und sagen es deutlich: Lasst die Alten doch sterben.

Gruppenbildungen

Menschen mit Behinderungen werden vergessen. Dass sich in Heimen, Werkstätten und Wohngruppen in den letzten Wochen Katastrophen anbahnten und die Menschen dort ungeschützt und isoliert unter einem hohen Infektionsrisiko leben, wurde lange nicht gesehen. Heimbewohner*innen bleiben allein in ihren Zimmern und leiden unter Einsamkeit, denn das Besuchsverbot bleibt weiter aufrecht. Derweil öffnen bereits erste Behindertenwerkstätten und nehmen den Betrieb wieder auf, obwohl ein Infektionsschutz nicht gewährleistet werden kann. Man nimmt es in diesem Bereich nicht sehr genau.

Förderschulen bleiben weiter geschlossen, während Schüler*innen auf Regelschulen in den letzten Wochen daheim geschult wurden und nach und nach in die Schulen zurückkehren dürfen. Behinderte Schüler*innen auf Regelschulen können aufgrund des Social Distancing ihre Schulbegleiter*innen nicht mit in den Unterricht nehmen und bleiben gezwungenerweise ebenfalls daheim. Pauschal zu sagen, behinderte Kinder auf Förderschulen können nicht via e-schooling lernen, ist eine gewagte Aussage. Das Recht auf Bildung sollte allen Kindern zustehen. In der Realität zeigt sich dann aber das Gegenteil.

Was lange verborgen war offenbart sich nun: Den Großteil der systemrelevanten Arbeit leisten Frauen und Migrant*innen in schlecht bezahlten Berufen ohne Homeoffice-Option. Statistisch gesehen sind es nämlich vor allem Frauen, die ihre Arbeitszeit zugunsten von Kinderbetreuung und Pflegearbeit von Angehörigen reduzieren, während überwiegend Männer in Expertengruppen den gesellschaftlichen Wandel diskutieren.

Das Armutsrisiko hat sich innerhalb dieser kurzen Zeit für sehr viele Menschen stark erhöht. Massenarbeitslosigkeit und Kurzarbeit trifft vor allem die, die schon vor Covid 19 nur schwer über die Runden kamen. Diese Armut stigmatisiert, schließt aus und macht Betroffene auf Dauer krank.

Ob man als Mensch mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung, als alleinerziehender Mensch oder ältere Person schnell wieder einen Job bekommt und der Armutsgefahr entflieht? Die Chancen stehen vermutlich eher schlecht. Die Forderung nach einer längst überfälligen Erhöhung des Arbeitslosengeldes bleibt derweil ungehört. Ungleichheit und Ungerechtigkeit scheinen durch diese Gruppenbildung sichtbarer denn je zu sein. Doch es fühlt sich an, als würden wir sie verfestigen statt zu beseitigen.

Barrierefreiheit auf Zeit

Die Corona-Krise hat uns mehr Barrierefreiheit und Digitalisierung beschert, weil sie nun auch für Nichtbehinderte erforderlich waren. Doch was geschieht, wenn sich das gesellschaftliche Leben nach und nach wieder normalisiert? Werden all diese Alltagshürden wieder aufgebaut, weil sie für die Mehrheit der Menschen nicht störend sind? Werden Onlinekurse, digitale Rezeptübermittlungen und das Respektieren des persönlichen Raumes hinfällig, wenn diese nur noch von einer kleinen Gruppe Menschen benötigt werden? Werden digitale Museumstouren, gestreamte Konzerte und Lesungen einfach wieder verschwinden? Gehört Inklusion zur neuen Normalität? Und stecken wir alle, die nicht der angestrebten Norm entsprechen, weiter in Schonraumfallen abseits der Gesellschaft mit der bequemen Ausrede, Behinderte und Risikogruppen ja nur schützen zu wollen?

Diese Sorgen und Gedanken trage ich seit Wochen in mir. Noch mehr als zuvor fordere ich Inklusion. Ich möchte sie dort anstoßen, wo es mir selbst möglich ist. Woher die Kraft dafür kommen soll, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass Marginalisierte laut, unbequem und penetrant bleiben und wünsche mir, dass wir in der Mehrheitsgesellschaft auf offene Ohren stoßen. Denn derzeit fühlt es sich mehr denn je wie ein Kampf gegen Windmühlen an.

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