Rezension: „Annika Rose und die Logik der Liebe“

Die meisten Texte und Bücher, die ich zum Thema Autismus lese, sind Berichte und Erzählungen Betroffener, Fachbücher oder Ratgeber. Romane waren bislang nicht dabei. „Annika Rose und die Logik der Liebe“ von Tracey Garvis Graves bricht nun mit dieser Gewohnheit.

Das 320seitige Buch erschien im Dezember 2019 im Knaur Verlag als Übersetzung des Originaltitels „The Girl He Used to Know“.

Die zweite Chance auf die erste Liebe

Annika Rose ist in jeder Hinsicht seltsam – ein Umstand, den sie und alle anderen Charaktere des Buches regelmäßig erwähnen. Sie ist unsicher im Umgang mit anderen, naiv in gefährlichen Situationen, überfordert mit allem, was neu ist und hilflos in alltäglichen Dingen.

Ohne ihre Mitbewohnerin Janice und deren tatkräftige Unterstützung im Alltag würde sie keinen Tag am College überleben. Egal ob Wäsche waschen, Freizeitaktivitäten oder die Liebe – Janice erklärt ihr alles, nimmt sie an die Hand und trocknet ihre Tränen.

Annika mag es, allein zu sein. Sie mag Bücher, Tiere und Schach. Und sie mag Jonathan, ihre erste große Liebe, den sie 1991 auf dem College kennenlernte. Doch die Beziehung zerbrach.

„Ich weiß nie, was andere Leute denken. Das ist, als wäre man in einem fremden Land, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird … ganz gleich, wie oft man Saft bestellt, immer bringen sie Milch.“

Annika Rose und die Logik der Liebe – Seite 187

10 Jahre später treffen sich beide zufällig in Chicago, wo Annika ohne jeden Wunsch auf eine Karriere in einer Bibliothek arbeitet und Jonathan als karrieregetriebener und kürzlich geschiedener Investmentbanker lebt. Beide bemerken bereits am Kühlregal, dass es noch immer brodelnde Emotionen zwischen ihnen gibt und verabreden sich wieder – trotz des für beide negativen Endes ihres ersten Beziehungsversuchs.

Die Erzählung springt zwischen 1991 und 2001, zwischen Annika und Jonathan, ohne an einer Stelle verwirrend oder unübersichtlich zu werden. Die Geschichte von Annika und Jonathan hatte an vielen Stellen die Möglichkeit, interessant und komplex zu werden. Versucht hat sie diese aber erst auf den letzten 50 Seiten.

Autistisch, aber attraktiv

Große Teile des Textes handeln von Annikas Fehlern. Der Fokus ihres inneren Monologes liegt ebenso darauf wie der der Dialoge zwischen ihr und anderen Personen des Romans. Ihre Schwächen werden im Übermaß kommuniziert. Zeitweise meint man, nichts an Annika sei gut und genau das denkt sie auch selbst. Sie will und muss sich anpassen, sei es im Job oder im Privatleben. Jonathan lobt sie, wenn sie sich überwindet und etwas macht, was sie eigentlich überfordert. Autofahren zum Beispiel oder das Treffen fremder Menschen. Er ist begeistert, wenn sie es schafft, vor seinen Freund*innen und Kolleg*innen normal zu wirken.

Unangenehm oft wird erwähnt, wie attraktiv Annika sei:

„Ich bin hübsch, das weiß ich aus zwei Gründen: Man hat es mir mein Leben lang gesagt, und ich besitze einen Spiegel. Manchmal frage ich mich, wie viel schlechter man mich behandeln würde, wäre ich hässlich.“

Annika Rose und die Logik der Liebe – Seite 41

Das hinterlässt einen schalen Beigeschmack und das Gefühl, sie würde mit ihrer Attraktivität die Vielzahl ihrer Fehler kompensieren können. Wäre sie nur durchschnittlich aussehend oder wenig attraktiv, wie schwierig wäre ihr Leben dann?

Die amerikanische Bestseller-Autorin Tracey Garvis Graves ist nicht autistisch und kennt keine autistische Person. Ihre Erfahrungen mit Autismus beruhen auf ihrer Recherche. Man merkt schnell, dass diese Recherche nicht in die Tiefe ging und sich an Defiziten orientierte. Sie schrieb mit Annika eine klischeehaft autistische Protagonistin, deren größtes Glück es ist, von jemandem durch das Leben geführt zu werden, der sie trotz ihrer zahlreichen Schwächen liebt.

Fazit

„Annika Rose und die Logik der Liebe“ ist eine einfach verständliche Liebesgeschichte für Momente, in denen man sich leichte Unterhaltung und das Gefühl von heiler Welt wünscht. Die Story führt die Leser*innen durch flache Spannungsbögen und schlichte Dialoge. Dieser Roman ist kein Buch, das über Autismus aufklärt, kein Buch, das einem die Welt einer autistischen Frau erschließt und keines, das autistische Leser*innen empowern will. Den Anspruch hat es aber auch an keiner Stelle erhoben.



Titel: Annika Rose und die Logik der Liebe
Autorin: Tracey Garvis Graves
Broschiert: 320 Seiten
Verlag: Knaur HC
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3426227088
ISBN-13: 978-3426227084
Originaltitel: The Girl He Used To Know

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