Hat die GFCF-Diät Einfluss auf Autismus?

Diäten sind die neuen Religionen. In unserem Bedürfnis, schöner, besser, klüger und gesünder zu werden, überschreiten wir hin und wieder die Grenzen der Vernunft und der Wissenschaft. Dieser Drang nach Selbstoptimierung durchzieht die ganze Gesellschaft; wer noch nie eine Diät gemacht hat, der werfe das erste Puddingteilchen. Bedenklich wird es allerdings, wenn man Diäten mit Heilsversprechen verknüpft und an denen anwendet, die (noch) nicht darüber entscheiden können, was sie essen: an Schutzbefohlenen, also Kindern.

Eine dieser Diäten, die immer wieder mit unseriösen Heilsversprechen auffällt und sich wachsender Beliebtheit bei Eltern autistischer Kinder erfreut, ist die GFCF-Diät.
GFCF meint glutenfrei (Gluten = Klebereiweiß, eine Proteinmischung die in einigen üblichen Getreidearten vorkommt) und caseinfrei (Casein = Milcheiweiß). Bei dieser Ernährungsform wird auf glutenhaltiges Getreide (Weizen, Roggen, Gerste, Dinkel) sowie Milch und Milchprodukte verzichtet.

Erstmals in den 60ern als fehlgeschlagener Versuch, Schizophrenie zu heilen, aufgekommen, fand der Forscher K. Reichelt opioide Stoffe im Urin autistischer Kinder, deren Entstehen er auf Gluten und Casein zurückführte und daher zum Verzicht riet. (K. L. Reichelt u. a.: Biologically Active Peptide-Containing Fractions in Schizophrenia and Childhood Autism. In: Adv. Biochem. Psychopharmacol. 28, 1981) Andere Wissenschaftler, die sich mit Autismus und GFCF beschäftigten, machten diverse Bakterienstämme als Auslöser für autistisches Verhalten aus. Tatsächlich konnte aber in verschiedensten Doppelblind- und Metastudien kein Zusammenhang zwischen der GFCF-Diät und Autismus hergestellt werden. (Siehe Link und Link)

Positive Berichte, die von einer Verbesserung autistischer Symptome sprechen, sind durchgehend Einzelmeinungen ohne wissenschaftliche Belegbarkeit, klassische anekdotische Evidenz also. Eine einzelne Studie aus 2002 erwähnt Veränderungen in der Darmflora, die auslösend sein könnten, ohne diese Hypothese weiter zu belegen. Zudem wurde dieser Versuch von Autism Speaks finanziert, es ist daher davon auszugehen, dass ein Interessenkonflikt vorliegt, der den Ausgang beeinflusst hat.

Eine gluten- und kaseinfreie Ernährung wird also ausdrücklich nur jenen Menschen empfohlen, die eine entsprechende Unverträglichkeit haben. Für autistische Kinder ohne derartige Unverträglichkeiten hingegen besteht die Gefahr einer Mangelernährung, die sich negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken kann. Veränderungen, die einzelne Eltern bei mit GFCF ernährten Kindern bemerken, können also durchaus Folgen einer Mangelernährung sein. Streicht man Getreide und Milchprodukte aus der Ernährung, fallen wichtige Energielieferanten weg. Ein Ruhigerwerden des Kindes lässt sich so zum Beispiel auch auf körperliche Schwäche aufgrund fehlender Energiequellen zurückführen.

Angebliche Verbesserungen, die nach einem längeren Zeitraum festgestellt werden, können ebenfalls einfach nur die Folge der kindlichen Entwicklung sein. Korrelationen werden zu Kausalitäten hochstilisiert. Ähnlich wie bei ABA wird bei GFCF-Anwendern die Entwicklung autistischer Kinder oft negiert, obwohl sich autistische Kinder natürlich im Laufe ihrer Kindheit entwickeln, ebenso wie nichtautistische Kinder. Die Geschwindigkeit und einzelne Entwicklungsschritte sind jedoch nicht mit denen nichtautistischer Kinder zu vergleichen und können daher nicht an ihnen gemessen werden. Eine Bilderbuchentwicklung eines nichtautistischen Kindes als Maßstab zu nehmen, führt nicht nur bei autistischen Kindern ganz automatisch zu Misserfolgen.

Nicht zu vernachlässigen sind auch die psychischen Schäden, die eine solche Diät bei dem damit behandelten Kind hinterlassen. Ernährung ist ohnehin schon ein hochsensibles Thema. Die Textur und der Geschmack des Essens können für Autist*innen höchst unangenehm sein und führen daher gelegentlich zu sehr eingeschränkter, für Außenstehende nicht nachvollziehbarer Ernährung, die gerne auch Ritualen folgt. Wenn dann die Lebensmittel, die für das Kind angenehm sind, unter Umständen auch noch wegfallen, dann ist dies eine deutliche Bestrafung für das autistische Sein des Kindes. Dem Kind wird vermittelt, es sei schlecht und falsch und muss geändert werden. Eine temporäre “Verbesserung” autistischer Verhaltensweisen kann daher auch eine Konsequenz der Bestrafung sein. Vom Essen separiert zu werden, nicht das Essen zu bekommen, was die anderen haben dürfen, wenn man ohnehin permanent mit Ausgrenzung zu tun hat, wird natürlich als schlimme Strafe wahrgenommen.
Die meisten erwachsenen Autist*innen können ausführlich darüber berichten, welch tiefe Narben es hinterlässt, wenn man permanent vermittelt bekommt, falsch zu sein.

Diese restriktive GFCF-Diät wird vor allem von Heilpraktikern, Elternverbänden und Verschwörungstheoretiker*innen propagandiert, die auch stark kritisierte Therapien wie ABA und manchmal sogar MMS anbieten. Anbieter und überzeugte Eltern argumentieren dabei ähnlich wie Impfgegner: Wissenschaftliche Belege werden nicht anerkannt, die Diskussion befindet sich auf einer rein emotionalen Ebene, die oft von Angst vor dem vermeintlichen Monster “Autismus” geprägt ist.

Doch die Schuld allein bei den Eltern zu suchen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Nicht alle Eltern fallen dem Optimierungswahn zum Opfer und leiden unter dem Makel einer Behinderung. Aus eigener Kindheitserfahrung als noch undiagnostizierte Autistin und aus den Erfahrungen und Berichten von Eltern autistischer Kinder weiß ich, auf wie viele Hürden und Schwierigkeiten man vor allem in der Kindheit stößt. Sicher ist jedes Kind, egal welche neurologische Grundvoraussetzung es hat, eine Herausforderung. Bei einem Kind mit Autismus jedoch sind die Schwierigkeiten teils existenzieller Natur. Eine vernünftige Bildung den Fähigkeiten des Kindes entsprechend ist alles andere als selbstverständlich, da Inklusion noch immer ein weit entferntes Ziel ist. Hilfen sind schwer bis nicht erhältlich. Die Möglichkeit der Unterstützung durch eine fähige Schulbegleitung ist selten bis nicht verfügbar und kann mit Beschluss des neuen Teilhabegesetzes unter Umständen ganz wegfallen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist trotz ihres Inkrafttretens 2008 noch lange nicht Maßstab. Autistische Kinder werden häufig mit Intoleranz und Ausgrenzung konfrontiert, was lebenslang seelische Narben hinterlässt. Ratschläge, gerne ungebeten erteilt, reichen von “das Kind ist furchtbar unerzogen” bis “das Kind sollte in einem Heim untergebracht werden”, und auch das Wegbrechen des eigenen Soziallebens ist etwas, was Eltern behinderter Kinder immer wieder widerfährt.
All das kann bei Eltern einen großen Leidensdruck aufbauen und so die Bereitschaft, sich mit unseriösen und haltlosen Heilsversprechen zu beschäftigen, erhöhen.

Doch wie kann man ein autistisches Kind und dessen Familie tatsächlich unterstützen? Fest steht: Eine Diät ist nicht die Lösung. Ein Verbessern gesellschaftlicher Probleme ist nicht von heute auf morgen machbar, doch bereits innerhalb der Familie kann viel getan werden, um das Miteinander zu verbessern. Elementar wichtig ist es, das autistische Sein anzuerkennen. Autist*innen sind weder falsch, noch minderwertig. Sie verhalten sich nicht aus reiner Bösartigkeit oder aus Mangel an Erziehung autistisch – sie leben mit einer anderen neurologischen Grundvoraussetzung, die die komplette Wahrnehmung beeinflusst. Basierend darauf ist das Verhalten für Nichtautist*innen nicht immer nachvollziehbar. Besonders Overloads und daraus resultierende Meltdowns, die oft fälschlicherweise als Wutausbrüche gesehen werden statt als Überlastungsreaktion, stoßen auf Unverständnis. Entwicklungsschritte passieren gerne sprunghaft und mit längeren Pausen, dabei ist die intellektuelle Entwicklung der emotionalen oft weit voraus.

Wichtig für Menschen mit Autismus ist zum Beispiel eine feste Tagesstruktur, basierend auf Ritualen. Veränderungen und Spontaneität sind sicherlich eine Herausforderung und nicht vermeidbar. Aber auch da kann man mit logisch basierten Erklärungen, Geduld und dem gemeinsamen Bestreiten der Situationen arbeiten. Autist*innen brauchen oft Erklärungen für etwas, das andere Menschen intuitiv erfassen. Meine Mutter erreichte erst, dass ich mir regelmäßig selbst die Zähne putzte, als sie mir genau erklärte, was in meinem Mund geschieht und Geduld mit mir hatte, bis ich das Zähneputzen in meine Tagesroutine integriert hatte. Ihre Zeichnungen von kariogenen Bakterien habe ich lange aufgehoben. Alle vorherigen Versuche, mich zur Zahnpflege zu zwingen, schlugen fehl.
Stimming, also selbststimulierendes Verhalten wie Wippen, Schaukeln oder das Flattern mit den Händen, dient Autist*innen der Selbstregulierung und hilft beim Entspannen. Ihnen das zu untersagen, nimmt ihnen ein wichtiges Werkzeug, was negative Auswirkungen haben wird. Simple Hilfsmittel wie Sonnenbrillen und Kopfhörer sind auch für Kinder eine enorme Erleichterung; sie immer dabeizuhaben ist kein Fehler.

Sicherlich ist all das, je nachdem, wo im autistischen Spektrum das Kind liegt, mehr oder weniger schwer umsetzbar. Verhalten hat aber, egal welcher Art, immer eine Ursache, einen Auslöser, der erkannt und verstanden werden will. Geduld und Respekt sind dabei immer angebracht und kommen ganz ohne Zwang und Druck aus. Schutzbefohlene Autist*innen mit einer Diät heilen zu wollen, hilft Kindern nicht, sondern drückt nur die Hilflosigkeit der Erwachsenenwelt aus.

3 Gedanken zu „Hat die GFCF-Diät Einfluss auf Autismus?

  1. SUPER BEITRAG! Kann mich allem nur anschließen. Danke. Bin wirklich begeistert davon, wie du alles immer so umfassend und dennoch komprimiert eörterst. Dabei sprachlich so treffend und kompetent.

  2. Nein, ich kann mich nicht anschliessen. Es hat seinen Grund, dass eine milch und glutenfreie Ernährung wirllich Erfol und Verbesserung der Symptome verspricht.

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