Autistische Aktivisten – Nicht ohne uns über uns!

 

Autistische AktivistInnen – das klingt doch nach einem perfekten Widerspruch. Wie kann eine Minderheit von Menschen mit einer Behinderung, zu deren Störungsbild kommunikative Einschränkungen, Probleme im Sozialkontakt und oft auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Konfliktunfähigkeit gehören, Aktivismus betreiben wollen?

Der Kernpunkt des Aktivismus ist jedoch nicht das Wollen, sondern die erdrückend große Notwendigkeit, für das entsprechende Thema einzustehen. Aktivismus ist für jede Minderheit deshalb so wichtig, weil die privilegierte Mehrheit kein Interesse daran hat, bestehende Strukturen zugunsten von Minderheiten aufzuweichen – sei es absichtlich oder aus Ignoranz. Um Veränderungen anzustoßen, braucht es Druck, eine kritische Masse, und Aktivismus hilft, diese kritische Masse zu erreichen. Wir AutistInnen müssen daher laut sein und anprangern, müssen unbequem sein, um gehört zu werden.
Es ist hart, denn Aktivismus heißt in den seltensten Fällen, Anerkennung für seine Arbeit zu bekommen. Aktivismus heißt vor allem, Feindbild zu sein, weil man den Finger in Wunden legt und Missstände thematisiert.

Was macht Aktivismus für Autisten notwendig?



Eine unsichtbare Behinderung wie Autismus wird schnell übersehen und damit auch die Notwendigkeit, für die Bedürfnisse dieser Gruppe einzustehen. Doch viele erdrückende Umstände machen einen Aktivismus für AutistInnen notwendig.

AutistInnen sind in der Wahrnehmung Nichtbehinderter in erster Linie Belastung. Nicht der Mensch wird gesehen, lediglich der Autismus und dessen unbequeme Seiten stehen im Fokus. NichtautistInnen teilen AutistInnen im Zuge dessen in “leichte” und “schwere” Fälle ein, was den AutistInnen nicht gerecht wird, sondern Diskriminierung Tür und Tor öffnet. “Leichter” und “schwerer” Autismus bedeutet nicht, dass der jeweilige Mensch mehr oder weniger Probleme in der Lebensführung hat. Danach wird nicht gefragt. Diese Kategorisierung bezeichnet das empfundene Ausmaß der Belastung, das AutistInnen für NichtautistInnen darstellen. Ebenso beliebt wie falsch und diskriminierend ist die nicht mehr zeitgemäße Einteilung in Asperger-, Kanner- und atypischen Autismus, gern mit der ableistischen Ergänzung, Asperger sei ja „gar kein richtiger Autismus“ und allenfalls eine „leichte Störung“.

Auch die Begriffe “hochfunktional” und “niedrigfunktional” sind hier mit Vorsicht zu sehen. Bezeichnet man einen autistischen Menschen als “hochfunktional”, dann, um ihm notwendige Unterstützung zu verweigern. Betrachtet man ihn als “niedrigfunktional”, möchte man ihm damit die eigene Handlungsfähigkeit absprechen. Beides geschieht auf Kosten der Selbstbestimmung und negiert somit ein gleichberechtigtes Miteinander.

Nur zu gern spricht man AutistInnen die generelle Fähigkeit und den Wunsch ab, für sich selbst zu sprechen und lässt lieber NichtautistInnen erklären, was Autismus ist, wie ein Leben damit aussieht und welche Unterstützung autistische Menschen benötigen. Dass man Betroffene nicht danach fragt und selbst darüber sprechen lässt, ist eine Problematik, die Autismus mit anderen Behinderungen gemein hat. Dieses unmündig machende Verhalten gegenüber Minderheiten ist bis heute nur allzu üblich.

Es ist äußerst wichtig, AutistInnen als Experten in eigener Sache anzuerkennen und ihnen selbst zu überlassen, für sich zu sprechen. Schwierigkeiten in der Kommunikation bedeuten nicht, dass Kommunikation an sich nicht möglich oder notwendig ist. Sie unterstreicht vielmehr die Wichtigkeit von Barrierefreiheit in Sachen Kommunikation.

Die Annahme von NichtautistInnen, AutistInnen, die sich am unauffälligeren Ende des Spektrums befinden, dürften nicht für jene sprechen, deren Autismus sich auffälliger äußert, stützt die These der Unmündigkeit nur. Kein Aktivist wird für sich beanspruchen, für alle Menschen seiner  Minderheit zu sprechen. Es wird immer Menschen geben, die sich in den bestehenden Strukturen wohl fühlen und keine Veränderungen anstreben und es steht ihnen selbstredend frei, diese Position weiterhin zu vertreten. Autistische AktivistInnen möchten und müssen aber jenen eine Stimme geben, die diese wollen und brauchen.

Deutlich sieht man die Notwendigkeit der Selbstvertretung bei Organisationen wie Aktion Mensch oder Autismus Deutschland, die sich der Förderung von Menschen mit Behinderung widmen wollen. Sie verweigern aktiv das Gespräch mit AutistInnen und nutzen bewusst die Einschränkungen, die Autismus mit sich bringt, um eine Stellungnahme zur Förderung der fragwürdigen Therapiemethode ABA zu umgehen. Sie wenden damit eine der zahllosen Möglichkeiten an, Menschen mit Behinderung ihre Stimme zu nehmen und ihnen Fremdbestimmung aufzuzwingen.

Für AutistInnen sind noch immer traumatisierende, schädigende und missbräuchliche Therapiemethoden wie ABA und MMS üblich – therapeutische Konzepte, die die Menschenwürde verletzen und oft schwere psychische, im Fall von MMS auch physische Schäden nach sich ziehen. Bei deren Anwendung steht nicht das Wohl des autistischen Menschen im Vordergrund, das bei diesen Therapien stark gefährdet ist. Sie dienen einzig dem Zweck, den Betroffenen für NichtautistInnen besser führbar zu machen, ungeachtet der Folgen, die das für den damit Therapierten nach sich zieht. Hinterfragt werden diese Methoden nur selten. Ihr Ziel ist klar, AutistInnen ein nichtautistisches Verhalten aufzuzwingen. Sie sind bequem und erzielen oberflächlich betrachtet schnell Erfolge, die im Grunde aber nicht mehr sind, als das Brechen des Willens der autistischen Person, die fortan nur Befehle und Anweisungen befolgt, ohne jene zu in Frage zu stellen.

Heranwachsende AutistInnen bekommen seit jeher ein defizitär orientiertes Bild ihrer Behinderung vermittelt. Ihnen stehen kaum Vorbilder zur Verfügung, an denen sie sich orientieren können und die ihnen vermitteln, selbstbewusst mit ihrem Sein umzugehen. Das führt auf lange Sicht dazu, dass ihnen der Mut fehlt, für sich selbst zu sprechen und einzustehen.

Was macht Aktivismus aus?

Aktivismus bedeutet vor allem Aufklärung, sei es durch Medienpräsenz, Veröffentlichungen, Vorträge, oder aber durch das vorbildhafte Wirken im eigenen Umfeld. Es bedeutet, aktiv Rechte einzufordern, die der Minderheit bislang verwehrt wurden.

Auf den ersten Blick mag ein Unbeteiligter den Eindruck bekommen, es gäbe doch zumindest eine kleine Zahl von Autisten, die für ihre Rechte und Bedürfnisse einstehen, vor allem in bekannten Autismusverbänden und -vereinigungen. Bei näherem Hinsehen wird aber sehr deutlich, dass es sich dabei in der Regel nur um die „guten Behinderten“ handelt, um die leicht Führbaren, die lediglich als Sprachrohr für die Bedürfnisse der NichtautistInnen fungieren.

Aktivismus ist keine Möglichkeit, sein Ego aufzuwerten, im Gegenteil. Er verlangt von uns, klar Position zu beziehen, oft unter starkem Gegenwind. Ein Aktivist, der von der Gegenseite hofiert wird, kommt seiner Aufgabe nicht nach. AktivistInnen durch Anerkennung zu inaktivieren, ist ein bekanntes Vorgehen und hat schon bei den allerersten Gewerkschaften funktioniert. Es entfernt die AktivistInnen von ihren Positionen und negiert ihre Arbeit.

Es ist daher nicht notwendig, den Dialog mit Menschen zu suchen, die gegen uns arbeiten. Umso notwendiger ist es aber, klar Position dafür zu beziehen, wofür wir stehen. Man muss sich dazu nicht zwingend Aktivist nennen. Trotzdem ist es wichtig, stringent für die Rechte der Minderheit einzustehen, der man angehört. Es wird nie nur einen einzigen Weg geben, dies umzusetzen. Verschiedene Standpunkte dazu, wie diese Rechte aussehen, sind gut und notwendig, sie bringen Vielfalt und Komplexität. Das sollte aber nicht dazu verleiten, Kritik an dem Vorgehen von anderen AktivistInnen aus falscher Solidarität zurückzuhalten. Wir können zum Beispiel nicht darüber streiten, ob es die Anbieter von ABA nun gut oder schlecht meinen, wenn die therapeutische Maßnahme an sich klar gegen die Menschenwürde verstößt.

NichtautistInnen und deren Leistung sollten für AktivistInnen kein Maßstab für das eigene Wirken sein. Menschen mit Behinderung begehen zu oft den Fehler, sich selbst an Nichtbehinderten zu messen und dadurch ihre eigenen Fähigkeiten abzuwerten. Gerade deshalb müssen Behinderte ihre Maßstäbe selbst definieren. Nicht das, was für Menschen mit Behinderung gut zu sein scheint, ist von Bedeutung. Wichtig ist vor allem, was behinderte Menschen selbst als hilfreich und notwendig definieren. Da man uns damit nicht bislang nicht ausreichend hört, ist es an uns, umso lauter zu werden.

 

4 Gedanken zu „Autistische Aktivisten – Nicht ohne uns über uns!

  1. bis auf die Tatsache das der Text nicht über autistische Aktivisten war, sondern selbst Aktivismus darstellt *bringt meinen Frontallappen zum grinsen*, stimme ich absolut zu. Danke!
    Wobei meine Analysemaschine mal wieder beginnt darüber zu sin­nie­ren wie Vorteilhaft eine Spätdiagnose in Bezug auf Selbstbestimmung evtl sein kann, oder welche Möglichkeiten sich dadurch ergeben wenn „das Kind“ die Situation besser begreift als das Elternteil, welches in Verweigerungshaltung darauf besteht : „mein Kind ist total NoRmAl“ des weiteren ist mir zum ersten mal bewusst aufgefallen wieso ich mich mit Doktor (Meredith) Rodney McKay (Stargate Fernsehserie) gut identifizieren konnte.
    Kondition Blau – breit zur Landung in die Ostertage

  2. Es ist gut, sich Gedanken zu machen, wo jemand steht und ob jemand sich einbringen, aktiv oder aktivistisch sein möchte. Ich frage mich, wann ein Mensch aus dem Spektrum „in den bestehenden Strukturen“ angekommen ist? Wenn er oder sie eine eigene Wohnung hat, eine Beziehung führt,“ in Arbeit ist“ und sich mit seiner Umwelt über seine Bedürfnisse verständigen kann? Im Kirchenchor mitsingt? Ein politisches Amt bekleidete? Ich finde Kategorien immer schwierig, auch wenn sie hilfreich sind fürs Hirn. Es könnte ja auch schwer(er) von einer Behinderung betroffener Mensch, der sich selbst auch so versteht, sagen: „Der oder die ist so gut angekommen in der Gesellschaft und kann so viel leisten, der oder die darf mich nicht aktivistisch vertreten, weil er oder sie kaum Ahnung davon haben kann, wie schwer es für mich ist, die einfachsten Bedürfnisse zu benennen und mir zu erkämpfen. Der oder die gehört ja zum Establishment.“ Wäre ja denkbar. Wie aber soll sich jemand mit solchen Gedanken von lautstarken AktivistInnen distanzieren? Aktivismus, man werfe mal einen Blick ins Politische, geht allzu oft an denen vorbei, für die der Aktivismus auf- und einzutreten vorgibt. Das hat er mit großen Verbänden gemein.
    Es wird noch viel Zeit vergehen müssen, bis wir die Möglichkeit haben, dass jede(r) für sich selbst sprechen kann, und zwar ganz praktisch in dem kleinen Rahmen seiner/ihrer Welt, mit Blick auf die eigenen Herausforderungen.
    Ich merke, ich muss mich mehr mit damit beschäftigen, z.B. eine Variante von ABA einmal live erleben; denn das ist derart verhasst, derart Feindbild und Projektionsfläche geworden, dass es was ganz Schlimmes sein muss (so dass es sogar mit dem esoterischen Bleichmittel MMS in einem Satz genannt werden kann).
    Feindbilder gehören leider allzuoft zum Wesen des Aktivismus.

    Menschen sollen sich an einen Tisch setzen, das kann meinetwegen auch ein eckiger Tisch sein, und aufeinander und auf die Bedürfnisse aller Beteiligten hören. Aktivismus lebt immer davon, dass irgendwer gegen etwas oder gar gegen jemanden ist. Fünf ich persönlich gefährlich und wenig effektiv. Daher: Auf die lange Sicht: Aktivismus überwinden.

    1. Wie bereits im Text zu lesen ist: Der Sinn von Aktivismus ist, bestehende Missstände deutlich zu machen und Veränderungen, Verbesserungen anzustoßen. Das gilt nicht nur im Bereich Autismus. Wir können nicht etwas überwinden, was seine Aufgabe noch nicht erfüllt hat. 

      Ebenso können wir nicht aufhören, Verbesserungen für eine Minderheit anzustreben, die so weit von Gleichberechtigung und Augenhöhe entfernt ist wie Autisten. Vielleicht lebst Du in Strukturen, in denen Du das nicht wahrnimmst. Vielleicht halten sich Diskriminierung und Benachteiligung in Grenzen. Dann gratuliere ich Dir, denn Du bist sehr vielen anderen gegenüber privilegiert.
      Viele von uns autistischen Aktivisten erzählen oft aus ihrem Alltag. Da müsste sehr schnell klar werden, wie viele alltägliche Kämpfe wir führen und wie eingeschränkt jeder einzelne von uns eigentlich ist. Aber dem anderen seine Beeinträchtigung abzusprechen ist ja ein allzu beliebtes Spiel unter Autisten, eines, was an Bösartigkeit und Diskriminierung kaum zu übertreffen ist.

      Sich zusammen an einen Tisch zu setzen und miteinander zu sprechen ist wichtig. Du erkennst dabei aber die Kernproblematik nicht: Es findet keine gleichberechtigte Begegnung auf Augenhöhe statt, keine Bereitschaft, Strukturen zugunsten der Minderheit aufzubrechen. Das macht derartiges Szenario unmöglich.
      
Ich verstehe, dass Du implizieren möchtest, ich müsse ABA erst selbst erleben, um zu erkennen, ob es gut oder schlecht ist. Dem widerspreche ich. Ich muss nicht MMS nehmen, um zu wissen, dass es physische Schäden hervorruft. Ich muss meine Psyche nicht brechen lassen, um zu merken, dass ich langfristig Traumata davontragen werde, anfälliger für Missbrauch bin und immer Probleme haben werde, das, was gut und richtig für mich ist, zuzulassen oder gar zu kommunizieren. Es reicht in der Tat, sich mit dem Konzept ABA zu beschäftigen, um zu erkennen, wie falsch es ist, dieses anzuwenden. Das polemische Herunterbrennen von Missständen auf „Feindbilder“ zeigt mir aber, wie wenig ernst Dir das Streben nach Veränderung und Verbesserung ist. Wie ich bereits schrieb, es ist Dein gutes Recht, keine Veränderung zu wollen, so wie es unser Recht ist, jene weiter anzustreben.

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