Neurodiversität im Beruf – Teil 5: Marie

Wie geht es autistischen Menschen am Arbeitsplatz? Sprechen sie über ihre Diagnose oder verheimlichen sie sie? Welche Erfahrungen haben sie gemacht? Wie gestalten sie ihren Tag? Mit welchen Schwierigkeiten sind sie konfrontiert?

Diese Fragen durfte ich mehreren Autist*innen stellen.



Teil 1 der Serie: Claudia: “Durch meine Offenheit ergänzen wir uns gut.”

Teil 2: Simone: „Manchmal geht es auch ohne institutionelle Hilfen.“

Teil 3: Klara: “Sich als Psychologin mit Autismus zu outen würde nicht gut ausgehen.”

Teil 4: Paul: „Entspannung ist eher schwierig für mich, weil ich einer der Menschen bin, die immer Input brauchen.“

Marie: “Wenn Deine Weitsicht durch das Wissen über deinen Autismus relativiert wird, ist das kein schönes Gefühl.”

Marie arbeitet in einem Beruf, in dem man autistische Menschen gern und fast schon klischeehaft sieht, der jedoch nicht automatisch barrierefrei für sie ist. Das zeigen auch ihre Erfahrungen.

Hallo Marie! Was machst du beruflich?

Hallo 🙂            

Ich verdiene meine Brötchen als ‘Spielverderberin’ – das heißt, ich arbeite im Bereich IT-Sicherheit.
Das ist weniger spektakulär als es klingt, glaube ich. Im Wesentlichen schreiben wir Anweisungen, wie die PCs, Server, Smartphones, etc. beschaffen oder konfiguriert sein müssen, dass wir sie halbwegs sicher betreiben können (wenn ein Hacker in ein System rein will, kommt er rein, alles andere ist Illusion, aber wir können es möglichst schwer machen). Natürlich gehören dazu auch Mitarbeiterschulungen und sowas, aber die machen meine Kolleg*innen.

Außerdem müssen wir uns natürlich Methoden ausdenken, die zuverlässig überprüfen, ob unsere Vorgaben eingehalten werden und ob sie auch den gewünschten Effekt haben.

Spielverderber sind wir deshalb, weil es für viele Mitarbeiter*innen schwer zu verstehen ist, warum sie eben nicht mit Google-Translator interne Dokumente übersetzen, keine Siri, Alexa & Co verwenden oder kein WhatsApp benutzen dürfen 😉

Wurdest du als Erwachsene mit Autismus diagnostiziert? Wie kam es dazu?

Ja, ich war knapp über 40 und  bin eigentlich in Therapie gegangen wegen Verdacht auf PTBS und Burnout. Meine Therapeutin hat mir noch in der Kennenlernphase gesagt, dass sie einen anderen Verdacht hat – der sich dann später bestätigt hat.

Wie gehst du in deinem Beruf mit der Autismusdiagnose um?

Sehr unterschiedlich. Ich versteckte mich den größten Teil meines Lebens aus verschiedensten Gründen (Mobbing seit dem Kindergarten, Queer, MPS, naturreligiös in einem sehr konservativ christlichem Umfeld,…) so sehr, dass ich streckenweise nicht mehr wusste, wer ich wirklich bin. Insofern ist Maskieren, also meinen Autismus verstecken,  meine erste Wahl.

Ausgewählte Kolleg*innen, zu denen ich Vertrauen hatte, habe ich in Einzelgesprächen dann über die Diagnose informiert. Inzwischen weiß auch mein Chef Bescheid, aber er war einer der letzten, mit denen ich über meine Diagnose gesprochen habe.

Warum hast du dich zu der Offenheit entschlossen und welche Erfahrungen hast du damit gemacht?

Am Ende waren es zwei Situationen, in denen ich laut geworden bin, weil mir das Thema am Herzen lag. Dabei habe ich wohl im Eifer meine Masken fallen gelassen, was zu Irritationen geführt hatte. In diesem Kollegenkreis habe ich dann angefangen, über Autismus zu sprechen.

Von ‘das hätte ich nie gedacht, Du bist doch ganz normal’ über ‘das erklärt so einiges’ bis ‘Hey, das ist ja cool, lass uns schauen, wie wir das Beste daraus machen können!’ war bei ihren Reaktionen alles dabei. Generell waren ihre Reaktionen überwiegend positiv.

Auf die Zeit betrachtet gab es aber auch negative Konsequenzen. Meine Aussagen werden seitdem von einigen anders bewertet, so als wäre ich immer viel zu vorsichtig und misstrauisch.

Im Security-Bereich ist Misstrauen durchaus nützlich. Aber wenn Deine Weitsicht/Bauchgefühl durch das Wissen über deinen Autismus von anderen relativiert wird, ist das kein schönes Gefühl. Auch wenn die Kolleg*innen manchmal recht zu haben scheinen, wenn die Risiken, die ich sehe, halt wieder mal nicht eingetreten sind. (Über die Ursachen dessen gibt es wiederum verschiedene Ansichten…)

Hast du schon einmal berufliche Hilfsangebote in Anspruch genommen? Ein Job-Coaching oder eine andere Maßnahme?

Nein, das hat sich aber auch nicht ergeben, da ich kein Angebot dazu bekommen hatte. Das einzige Angebot, was ich bisher ausgeschlagen habe, war ein Antrag auf Gleichstellung. Somit würde ich einer Schwerbehinderten gleichgestellt, mit allen Vor- und Nachteilen. Abgesehen davon, dass ich mich nicht so eingeschränkt fühle, als dass ich dies ‘brauchen’ würde, oder mir Erfolgsaussichten bei der Antragstellung ausrechne, möchte ich diesen Stempel auch nicht haben. (Aus meiner Sicht haben ‘die anderen’ Einschränkungen im logischen Denken und Präzision in ihrer verbalen und nonverbalen Kommunikation. Aber das brauche ich Dir ja nicht erklären 🙂 )

Hast du dir die professionellen Soft Skills, die uns Autist*innen oft so schwer fallen, selbst erarbeitet und kannst Ratschläge für das Erlernen geben?

Die Frage verstehe ich nicht ganz. Wenn Du damit die Masken und Kompensationsstrategien meinst: Ja, die habe ich selbst erarbeiten müssen. Als ich klein war, gab es ja noch kein Wissen darüber.

Meine Strategien sind teilweise recht aufwändig und ich lerne in der Therapie, wie ich sie effizienter machen kann. Durch meine selbst-entwickelten, oft nicht sehr effizienten Strategien entstanden im Laufe der Zeit die Burnout-Symptome. Ich war einfach mit Kompensieren beschäftigt und hatte keine Kapazitäten zum Leben frei.

Zum Erlernen hilft aus meiner Erfahrung, dass du dich auf deine eigenen Stärken stützt. Die Strategien müssen auf Dich passen. Ich habe ein Elefantengedächtnis, sofern ich das Erlernte an vorhandenes Wissen anknüpfen kann. Außerdem kann ich gut beobachten und ableiten und Muster erkennen.

Das hilft mir z.B. beim Smalltalk. Ich kann das immer noch nicht, aber dadurch, dass ich mir jeden Mist merke, gibt es fast kein Thema, bei dem ich nicht irgendwie oberflächlich mitreden könnte. Also klopfe ich in den ersten Sätzen ab, wo mein Gegenüber die Interessen hat und zack – kein Smalltalk mehr, sondern ein ‘echtes’ Gespräch, mein Gegenüber merkts meistens gar nicht und ich kann sogar noch was lernen 🙂
Ironie und Sarkasmus geht auch prima mit Mustererkennung. Sobald ich auf die Idee komme, dass an dem gehörten Satz ‘irgendetwas faul’ ist, versuche ich ihn zu abstrahieren und verschiedene Vergleichsmuster zu schicken. So verstehe ich auch mir unbekannte Sprichworte meistens. Das Schwierige ist nur, zu erkennen, wann ich das tun sollte und wann es so gemeint ist wie es gesagt wurde. Da falle ich immer noch manchmal rein.

Aber ob das allgemeingültige Tipps sind, weiß ich nicht, ob sie für alle passen. Ich habe wohl ziemlich Glück gehabt mit meinem Gehirn.

Wie entspannst du dich nach einem harten Arbeitstag oder einem längeren Projekt? Helfen dir Urlaube oder sind sie eher ein Streßfakor?

Urlaube? Bist du des Wahnsinns? 😀

Wenn ich in den Urlaub fahre (wegen Family und ich möchte ja schon ein bisschen von der Welt sehen und wieder an meine geliebte Nordsee und so…), brauche ich anschließend mindestens zwei Tage Erholung. Wirklich auftanken kann ich im Fantasy Liverollenspiel (LARP). Dort bin ich eine Waldelbe, welt- und menschenfern, und kann meinen Eigenheiten freien Lauf lassen. Bisher wurde das immer als besonders konsequentes, glaubhaftes und somit gutes Rollenspiel gesehen 😉

Tauscht du dich mit anderen Autist*innen aus? Zum Beispiel über Probleme, Sorgen und autismusspezifische Themen?

Ja, im wesentlichen über Twitter.

Hast du Ideen, welche vom Arbeitgeber, Jobcenter oder Inklusionshilfe integrierten Maßnahmen in einem Berufsalltag wie deinem helfen könnte? Das können z.B. Kurse sein, Mehrurlaub , Unterstützung des Jobcenters/AMS oder personelle Hilfen.

Da gibt es einiges:

  • Statische Bildschirmschoner! Viele Unternehmen legen den Schoner fest mit irgendwelchen zappelnden Dingen, Videos zur Selbstdarstellung, etc.
    Wenn ich mir meinen Bildschirmschoner auf ‘einfach schwarz’ stellen kann, ist das nur mäßig hilfreich, denn ich sitze ja selten davor wenn das Ding läuft. Aber die Kolleg*innen haben ihren laufen wenn ich arbeite. Dieses Geflimmer in den Augenwinkeln macht mich wahnsinnig!
  • Unternehmensinterne Chat-Tools (z.B. Lync, Skype,…). Wie viele Autisten habe ich Schwierigkeiten mit Telefonaten. Wenn ich einen Anruf per Chat ankündigen kann, fällt er mir zig-fach leichter, weil der Adressat ja meinen Anruf erwartet, ich habe also die ‘Erlaubnis’ anzurufen.
  • Aufgabendefinition nach Arbeitspaketen anstelle von Arbeitszeit. Ich kann viel entspannter arbeiten (bei letztendlich höherer Effizienz), wenn ich Arbeitspakete pro Tag/Woche/Monat als Ziele bekomme anstelle von Arbeitsstunden. Ein großer Teil meiner Arbeit ist Dokumentenvergleich. Da ich aber den Inhalt eines 120-Seiten Dokuments über mehrere Tage im Kopf behalte, bin ich beim Vergleich solcher Dinger erheblich schneller, als Kolleg*innen die sich in 10-Seiten-Abschnitten vorwärts quälen. Allerdings brauche ich auch mehr Pausen zum runter kommen. Gönne ich die mir nicht, werde ich mittelfristig krank. Seit ich meine Pensum-Vorgaben auf Paketbasis bekomme (danke Chef! <3), bin ich viel ausgeglichener und habe trotzdem einen leicht höheren Durchsatz.
  • Einzelbüro oder richtige Schallkabine im Großraumbüro. Ich brauche nicht viel, mir sind 1x1m ganz für mich alleine viel lieber, als 50m² mit 10 Leuten gemeinsam genutzt

Das sind aber alles Dinge, die für mich persönlich gelten. Ich war 40 Jahre lang zwar „etwas seltsam“ ,aber sonst soweit unauffällig. Dieses Glück haben nicht alle Autist*innen.

Ein Gedanke zu „Neurodiversität im Beruf – Teil 5: Marie

  1. Ganz toller Bericht, in dem ich mich in auffällig vielen Details wiederfinde … nur noch ein bisschen später, aber ebenso „zufällig“ eher nebenher „erkannt“/diagnostiziert.
    Interessant auch das mit den Arbeitspaketen … allerdings bestünde bei mir vielleicht die Gefahr, dass ich alles zu penibel mache, so dass ich letzten Endes doch länger als die Kollegen bräuchte, die dafür aber ganz gerne (also eigentlich aus Unachtsamkeit) wichtige Details übersehen, die sie dann eben später bemerken würden … aber dann ist es ja vielleicht zu spät. (Ich arbeite zwar nicht in der IT-Security, bin jedoch für hochverfügbare 24/7-Produktionssysteme zuständig, wo es für die Rufbereitschaft nicht schön ist, wenn jemand da tagsüber Kleinigkeiten übersehen hat.)
    Witzig auch die gemeinsame Aversion gegen „Geflimmer“, das heutzutage ja immer mehr zunimmt, und erst recht verblüffend die offenbar ähnlichen Probleme mit Urlaub — die meisten Menschen in meiner Umgebung können das überhaupt nicht verstehen, scheinen das allerdings auch eher als Statussymbol zu sehen … das brauche ich nicht. Aber Runterkommen wäre manchmal schon hilfreich … das gelingt mir schlecht, weil ich ständig auf interessante Themen stoße. (Wie jetzt gerade hier.)

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