Es gibt zahllose Publikationen voll ethisch fragwürdiger Ratschläge zum Umgang mit autistischen Kindern an pädagogischen Einrichtungen und im Elternhaus. Darum war ich neugierig, aber zugegeben auch voreingenommen, als ich ein Rezensionsexemplar der Broschüre „Umgang mit autistischen Menschen“ des Frischtexte Verlags erhielt.
Es ist mir bewusst, dass es wenig empfehlenswert ist, mit einer negativen Einstellung an einen Text heranzugehen, doch die Masse der defizitär orientierten Veröffentlichungen mit demütigenden, entwürdigenden Vorschlägen zum Umgang mit autistischen Kindern erreicht auch bei mir, dass die Neugier der Furcht weicht.
Die mir vorliegende Broschüre von 20 Seiten wurde von der Fachpool gGmbH (Gesellschaft für Fortbildung und Beratung) und der Evangelischen Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH herausgegeben. Beide arbeiten nach eigenen Angaben in unterschiedlichen Bereichen mit autistischen Kindern und Jugendlichen.
Positiv überraschte mich das Vorwort der Autor*innen, das größtenteils im Konjunktiv geschrieben ist. Auf mich wirkt diese so formulierte Einleitung respektvoll, die Autor*innen betonen die Vielfalt des autistischen Spektrums und die Unmöglichkeit allgemein gültiger Ratschläge.
Diese Broschüre ist ein Versuch, Vorschläge und Ideen zu sammeln, die einerseits den schulischen Alltag in Unterricht und Pausen für Lehrer und Schüler entspannter gestalten können. Andererseits möchten wir Lehrern, Mitschülern und Eltern Hilfen anbieten, um autistische Verhaltensweisen besser nachvollziehen zu können.
Aufgrund des breiten Spektrums der autistischen Besonderheit ist es nicht möglich, allgemeingültige, funktionierende „Verhaltensregeln“ im Umgang mit autistischen Schülern zusammenzustellen. Deshalb ist zu beachten, dass die hier zusammengetragenen Handlungsmöglichkeiten lediglich Vorschläge und Ideen darstellen, die für jedes autistische Kind individuell betrachtet werden müssen und dementsprechend individuell verändert werden können.
(Aus: Umgang mit autistischen Menschen – Ratgeber für Lehrer, Mitschüler und Eltern)
Der Text unterteilt sich in vier Kategorien, in denen auf grundlegende Besonderheiten eingegangen wird. An dieser Stelle gefällt mir die Wortwahl: Die Autorinnen schreiben von „Besonderheiten“ statt von „Unvermögen“, sie erwähnen mögliche Missverständnisse, statt die Worte „Fehler“ oder „Probleme“ zu verwenden.
Mit dem autistischen Kind sprechen
An dieser Stelle wird auf die Wichtigkeit einer direkten, informationsbasierten Sprache eingegangen. Hervorzuheben ist der Hinweis, dem Kind Zeit zu geben, Informationen zu verarbeiten. Die Autor*innen lassen sich also auf die andere Wahrnehmung und Informationsverarbeitung von autistischen Menschen ein.
Bei Hinweisen wie jenem, dass sich ein autistisches Kind nicht dem „Wir“ zugehörig fühlt, sondern separat angesprochen werden soll, bin ich irritiert, da ich derartiges vorher noch nie gelesen habe und es mir auch aus eigener Erfahrung fremd ist. Ich würde mich über Erfahrungsberichte in den Kommentaren freuen.
Aufgabenstellung
Die Empfehlung, das Kind bei der Frage nach dem Verständnis einer Aufgabenstellung nicht bloßzustellen, indem man es vor der gesamten Klasse fragt, sondern ein 1:1-Gespräch zu suchen, ist für mich eines der Highlights dieser Broschüre. Es ist traurig, dass ich das derart betonen muss, aber die gleichberechtigte, freundliche Behandlung autistischer Kinder ist noch immer nicht Alltag an Schulen und darüber hinaus.
Ratschläge zum Verständnis von Zeitvorgaben, was einigen Autist*innen Schwierigkeiten bereitet ergänzen diesen Punkt ebenso wie Hinweise zur Einbindung der Kinder in Gruppenarbeiten. Statt diese kategorisch auszuschließen, geben die Autor*innen gut umsetzbare Vorschläge der Integration in diese.
Pause
In diesen Zeilen wird darauf geachtet, das Kind in die Pausenaktivitäten zu integrieren, bei Bedarf aber auch eine „echte Pause“, also eine Pause von jedweden sozialen Interaktionen zugänglich zu machen, ohne dies als „Strafe“ zu brandmarken. Es werden Handzeichen empfohlen, um Überlastungssituationen kenntlich zu machen, in denen das Sprechen doch oft nicht möglich ist. Die Unterstützung der Kontaktaufnahme zu den Mitschüler*innen wird ebenfalls nahegelegt.
Raum/Störfaktoren
Jede*r Autist*in weiß, wie wichtig die Raumgestaltung ist und wie sehr Ordnung und System einen Einfluss auf das Leistungsvermögen haben können. Es ist angenehm zu lesen, dass auf diese Punkte ausführlich eingegangen wird. Feste Sitzordnungen helfen, die Schulstunden zu strukturieren, Reizarmut unterstützt das Konzentrationsvermögen. Der Ratschlag, farbige Markierungen als Orientierungshilfe auf dem Boden anzubringen, liegt wieder außerhalb meiner eigenen Bedürfnisse, ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass diese für andere Autist*innen hilfreich sein könnten.
Zwanzig Seiten mögen wenig erscheinen und doch schaffen es die Autor*innen, in diesem Rahmen praktische Ratschläge für Lehrpersonal und Eltern zu geben. Menschen, die sich schon intensiv mit Autismus befasst haben, werden vermutlich nichts Neues darin finden, für jene, die mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind, ist es ein empfehlenswerter Einstieg. Der Text lässt defizitorientiertes Denken völlig vermissen, was ich sehr begrüße. Stattdessen ruft er an verschiedenen Stellen zur Integration in den Klassenverband auf, als wäre es das natürlichste der Welt. Und ja, das ist es auch. Ein autistisches Kind ist kein Ärgernis, es ist ein gleichberechtigter Teil einer Schulklasse und es ist lang überfällig, Autist*innen auch so zu behandeln.
Umgang mit autistischen Menschen
Ratgeber für Lehrer, Mitschüler und Eltern
Frischtexte Verlag
Hrsg: Volker Rhein
ISBN: 978-3-933059-48-2
Erscheinungsjahr: 2014
Preis: 5,99 €
Wenn der Kontext (wie bei einer Schulklasse oder einem Arbeitsteam) klar ist, fühle auch ich mich mitunter einem „Wir“ zugehörig. Schwierig wird’s, wenn die „Wir“–Definition lediglich im Subtext mitgeliefert wird … da hilft oft nur Nachfragen.
Völlig fremd ist mir die verbreitete Identifizierung mit Sport–Idolen etc.: „Wir sind Weltmeister“ — Nein, ich sicher nicht. Wobei mir diese Abgrenzung auch bei Nichtautisten bekannt ist.
Absolute Zustimmung.
Auch als Nicht-Autist werde ich zwar vielleicht ein (sehr kleiner) Teil von „wir sind Weltmeister“ sein, niemals aber das wir-Gefühl als persönlichen Erfolg erleben.
Ich kenne das „wir“-Problem bei meinen Kindern durchaus, der Grund ist aber ein anderer: Wörtlichnehmen. Es gibt Lehrer/innen, die Aufforderungen gerne in Form von Aussagesätzen kleiden, die mit „wir“ anfangen, z.B. „Wir nehmen jetzt alle den Mathehefter raus!“ Das kann schon verwirren, denn 1. passiert das ja in dem Moment nicht und 2. tut die Lehrkraft auch nichts dergleichen. Das ist die gleiche Kategorie von Missverständnis wie „Kannst du das Fenster aufmachen?“ – „Ja.“ – „Warum tust du es denn nicht?“ – „Es hat doch keiner gesagt, dass ich das TUN soll!“
Bei meinem Sohn ist der Hinweis, ihn bei Bedarf separat anzusprechen, weil er sich bei allgemeinen Aufforderungen nicht angesprochen fühlt, durchaus hilfreich. Er fühlt sich nicht immer als Teil von „Wir“ oder „Ihr“. So konnte er im Kindergarten beispielsweise wunderbar andere Kinder auf die Einhaltung der Regeln hinweisen, merkte aber nicht, dass diese Regeln auch für ihn gültig waren. Ein Übertragungsproblem, würde ich sagen. Das hat sich aber inzwischen sehr deutlich gebessert.
Ich finde den Hinweis mit dem ‚wir‘ exzellent. ‚Wir‘ ist einfach zu unspezifisch. Es kann jede beliebige Gruppe oder Untergruppe meinen und meint oft nicht die Gesamtheit der Anwesenden. Das Problem, mit bei ‚wir‘ nicht angesprochen zu fühlen, hatte ich auch schon früh. Das wurde mit der Zeit dann eher noch schlimmer, weil ich durch diverse Ausgrenzungserfahrungen dann eben zu dem Schluß kam, ‚wir‘ bedeutet ‚beliebige Gruppe exklusive Mela‘.
Mein Sohn kann mit „wir“ und „uns“ überhaupt nichts anfangen. Wir ist für ihn ein Begriff der eine Gruppe umschreibt, das er auch Teil der Gruppe ist, ist für ihn absolut undenkbar.