Wann immer eine neue Serie oder ein neuer Film zum Thema Autismus erscheint, ähneln sich die Reaktionen: Nichtautist*innen sind gern unreflektiert begeistert, Autist*innen ängstlich und besorgt über die Art, wie sie dargestellt werden. Zuletzt ließ sich das bei der coming-of-age Serie Atypical beobachten. Nun gibt es einen neuen Anlass.
Am 22. Juli 2020 veröffentlichte Netflix die 5 Folgen umfassende Dokuserie “Love on the Spectrum”, die für den australischen Fernsehsender ABC produziert wurde. “Love on the Spectrum” ist nicht die erste Serie mit behinderten Protagonist*innen aus der Hand des Produzenten und Regisseurs Cian O’Clery. 2018 erschien “Employable Me”, eine australische Dokumentarserie, in der Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Neurodiversitäten bei der Arbeitssuche unterstützt wurden.
Ganz normale Autist*innen
Um Protagonist*innen für das Format zu finden, kontaktierte das Team australische Autismus-Organisationen und Selbsthilfegruppen. Sie warben sogar mit einem Stand auf Comic-Conventions.
In “Love on the Spectrum” lernen wir den 25jährigen Michael kennen, einen warmherzigen, stilvollen Mann, der von sich selbst sagt, er sei der perfekte Mann zum Heiraten. Die Beziehung mit seiner Traumfrau hat er bereits durchgeplant, ohne sie gefunden zu haben. Auch der künstlerisch begabte Kelvin, 20, der mit seinem alleinerziehenden Vater zusammenlebt, ist Teil des Casts. Cloe, 19, ist eine sehr reflektierte, herzliche Frau und datet in der Show sowohl Frauen und als auch Männer. Maddi zeichnet sich durch einen großartigen Humor aus, hat sich mit 23 Jahren aber noch nie verliebt. Olivia (25), die in ihrer Freizeit an einem Theater schauspielert, kann ihre unerwiderten Schwärmereien hingegen nicht mehr zählen. Mit 27 hat Andrew akute Torschlusspanik. Und Mark, 29, wünscht sich eine Freundin, die seine Liebe für Paläontologie teilt. Alle Teilnehmer*innen zeichnen sich durch eine hohe soziale Kompetenz aus. Sie zeigen eine große Fürsorglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Freundlichkeit. Nur eben auf ihre ganz eigene, autistische Art.
Auch zwei Paare nehmen an der Dokuserie teil: Ruth und Thomas planen bereits ihre Hochzeit. Jimmy und Sharnae sind noch nicht so weit, sie bereiten sich erst einmal auf die erste gemeinsame Wohnung vor. Zwei Berater*innen, die unter anderem eine Art Dating-Bootcamp organisieren, vervollständigen den Cast und begleiten die Autistinnen und Autisten mit wertvollen Ratschlägen und viel Respekt auf ihrer Partnersuche.
Auffällig ist, dass alle Teilnehmer*innen ausschließlich im Autismusspektrum daten möchten. Maddi macht das ganz bewusst, da sie davon ausgeht, dass zwei autistische Beziehungspartner*innen einander besser verstehen. Von den anderen erfährt man nicht, ob es ihr ausdrücklicher Wunsch ist oder ob aber ob es aus der Not geboren ist, kein Potenzial zu sehen beim Kennenlernen nichtautistischer Partner*innen. Es ist ein positiver Aspekt dieser Serie, dass es hierzu keine Vorgabe von den Produzent*innen gab und es den Protagonist*innen überlassen war. Auch die stark konservativen Wünsche zu Form und Gestaltung der Partnerschaft werden nicht näher erläutert. Sie können auf dem Einfluss des nichtbehinderten Umfelds beruhen, auf dem Wunsch nach einem vorhersehbaren, bereits bekannten Muster oder auf individuellen Gründen, die uns in dieser Serie nicht genannt werden.
Beziehungen als Königsdisziplin
Cian O’Clerys Motivation hinter “Love on the Spectrum” war es, die Vielfalt des in den Medien unterrepräsentierten Autismusspektrums zu zeigen und mit gängigen Vorurteilen über Autismus aufzuräumen. O’Clery wollte nichtautistischen Menschen die Chance geben, zu verstehen, welche Probleme Autist*innen beim Dating und in Beziehungen haben.
Tatsächlich hält sich das Vorurteil, Autist*innen würden keine zwischenmenschlichen Beziehungen brauchen oder wollen, sehr hartnäckig. Das nimmt die “Königsdisziplin” der sozialen Interaktionen, das Dating und das Führen romantischer Beziehungen, nicht aus. Dabei haben autistische Personen genau wie alle anderen Menschen Bedürfnisse nach Freundschaften und Beziehungen. Nur ist das für uns mit großen Hürden verbunden. Statt anzuerkennen, wie schwer es ist, Kontakte zu Menschen aufzubauen und zu halten, mit wie viel Ablehnung, Selbstzweifeln, Scheitern und Schmerz die Versuche oftmals verbunden sind, gehen Nichtautist*innen schnell davon aus, unsere Zurückhaltung und Scheu sei einfach nur Desinteresse. Durch das Vorurteil, emotionslos zu sein, unterstellt man uns auch pauschal eine Beziehungsunfähigkeit.
Autismus ist eine Neurodiversität und ein Spektrum, in dem sich alle Autist*innen ganz individuell und unterschiedlich wiederfinden. Das erklärt die Vielfalt an Symptomen und Wesensarten unter autistischen Menschen. Durch diese neurologisch bedingte andere Art des Seins unterscheidet sich die Wahrnehmung von Autist*innen von der nichtautistischer Menschen. Das äußert sich zum Beispiel in der Kommunikation, der sozialen Interaktion und in der Art zu denken und zu handeln. Auch das Nichtverstehen von intuitivem Verhalten, nonverbaler Kommunikation und sozialen Regeln gehört dazu – all das sind Bestandteile sozialer Beziehungen. Ein bis zwei Prozent aller Menschen sind sind im autistischen Spektrum. Trotz dieser hohen Zahl ist die Akzeptanz und das Verständnis für Autismus kaum vorhanden.
„Menschen im Autismusspektrum wollen Liebe so wie alle anderen auch“, sagte Cian O’Clery in einem Interview mit dem Onlinemagazin TheWrap. „Es ist wirklich erfrischend und schön, Menschen auf einer authentischen Dating-Reise zeigen zu können, die keine bildhübschen, gut aussehenden Menschen sind, die nach Instagram-Followern suchen.”
Autistische Authentizität unerwünscht
Diese fehlende Repräsentanz in den Medien verursacht auch die unterschiedlichen Reaktionen auf die Serie. Einige autistische Personen sind sehr begeistert von der authentischen Art der Menschen, die im Laufe der 5 Folgen vorgestellt werden. Manche Autist*innen fühlten sich nach dem Ansehen aber auch unangenehm berührt. Die Protagonistinnen und Protagonisten sind alle verhältnismäßig auffällig. Sie verstecken ihre autistischen Wesenszüge kaum. Dieses Verhalten ist wünschenswert. Das permanente Selbstverleugnen und Anpassen an nichtautistische Erwartungen ist harte Arbeit, die bis ins autistische Burnout führen kann. Die authentische Darstellung von Olivia, Matthew, Cloe und den anderen weckt aber auch eigene, teils traumatische Erinnerungen. Auffälliges Verhalten wurde und wird bei den meisten autistischen Menschen sanktioniert und führt oft zu Mobbing und zu gesellschaftlichem Ausschluss. Personen zu beobachten, die frei und ungezwungen sie selbst sind, ist daher sehr ungewohnt. Weckt es in uns vielleicht sogar die unterbewusste Angst vor eben jenen Sanktionen?
Die Serie verleitet dazu, die Augenhöhe zu den Protagonist*innen zu verlassen. Das zeigt auch die bisher zurückhaltende Berichterstattung. Im Standard schreibt Sebastian Fellner, “Die Liebenswürdigkeit der Protagonisten ist bei Love on the Spectrum besonders stark ausgeprägt – das Mitfiebern mit den Liebesuchenden folgerichtig ebenso.” Er geht aber nicht darauf ein, ob das autistische Sein Grund für die Liebenswürdigkeit ist und er das Bild des “netten Behinderten” vor Augen hatte. Mit dem Satz “Die Verkindlichung der erwachsenen Menschen erzeugt teilweise einen bitteren Beigeschmack” zeigt er ein Unverständnis für autistische Kommunikationsformen.
Augenhöhe oder feuchte Augen?
Die LA Times findet die direkte, unverstellte autistische Kommunikation besonders erfrischend und schreibt:
“Most refreshingly, the dates in ‘Love on the Spectrum’ tend to conclude with direct conversations about whether or not a second date is on the table. No one needlessly strings anyone along; nobody tries to win anybody over by playing hard to get. Defining the relationship is just another part of the date, before sharing a kind goodbye.”
Am erfrischendsten ist, dass die Verabredungen in „Love on the Spectrum“ in offenen Gesprächen darüber enden, ob es ein zweites Date geben wird oder nicht. Niemand hält irgendjemanden unnötig hin; niemand versucht, sich rar zu machen, um die eigene Attraktivität zu steigern.
Ob man die Menschen in “Love on the Spectrum” mit all ihren Wünschen und Bedürfnissen auf Augenhöhe begegnet oder sie als behinderte Sonderlinge belacht, von denen man beim Serienmarathon unterhalten wird, liegt in meinen Augen stark an der eigenen Einstellung zu Behinderung. Die Serie entwickelt sich für mich zu einem sprichwörtlichen Lackmustest – ein Indikator für die Einstellung von nichtbehinderten Menschen gegenüber Behinderung und dem Anderssein. Im Gespräch über diese Dokuserie merkt man schnell, wie das Gegenüber wirklich denkt und ob es Augenhöhe einnimmt oder vor Lachen oder Rührung feuchten Augen bekommt.
Wie dein Fazit schon sagt, ich bin nicht sicher ob man bei manchen Zuschauern nicht die Vorurteile generiert oder sogar verstärkt- das wär meine Befürchtung. Es liegt im Auge des Betrachters eben. Trotzdem ist es vielleicht gut, so eine Show zu zeigen…
Liebe Marlies
Vielen Dank für diesen großartigen, vielschichtigen Beitrag zu „Love on the Spektrum“, der Vieles ausspricht, das ich auch so empfand, als ich die Doku Serie gestern zum ersten Mal sah (übrigens, nachts um 1 und in einem Rutsch durch, weil ich so eingenommen und berührt davon war). Gemischt waren dabei die Gefühle – wobei ich letztlich aber sehr dankbar dafür war, diese sehr sympatischen, coolen jungen Menschen bei ihrer Partnersuche ein Stück im Film begleiten zu dürfen.
Einerseits fand ich es gut, das sich jemand mal wieder mit dem Thema Autismus filmisch beschäftigt hat (so wie bei Atypical) und auch, dass sich Jemand dieses spezielle Angebot für Autisten auf dem Spektrum einfallen ließ (eine Art Dating Agentur, die die Blind- oder Speed-Dates organisiert und begleitet haben und auch das ergänzende, persönliche Dating-Beratungsangebot zuhause) – wenn auch wohl nur für die Produktion des Films.
Sicherlich ließe sich da das ein oder andere noch verbessern, aber im Großen und Ganzen fand ich es ganz o.k., wie es angeboten wurde (im Restaurant, Draußen, im Museum, im Haus und mit dezenter Begleitung im Hintergrund).
In Deutschland wäre so eine begleitende Datevermittlung und -Beratung ein absolutes Novum und ich frage mich, ob und wie man dies hier umsetzten könnte. Der Bedarf wäre sicherlich da. Wie Olivia schon sagte, ist es nicht ungefährlich, sich auf den den üblichen Dating-Plattformen umzusehen. Auch hierzulande muss man schon froh sein, wenn man bei einem Datingportal wie z.B. „Gleichklang“ eine wenigstens etwas geschützere Alternative zu den gängigen Anbietern findet.
Andererseits hatte ich an manchen Stellen auch ein ungutes Gefühl, weil ich dachte, dass ich – als Mutter einer jungen, erwachsenen AspergerAutistin – die z.T. ausgeprägt – originellen Verhaltens-weisen eines im Film gezeigten jungen autistischen Menschen mit liebevollen Augen oder auch mal einem wohlwollendem Schmunzeln betrachte – auch weil mir Einige von diesen von meiner Tochter her vertraut sind.
Ich aber nicht weiss, wie das bei Nichtautisten ankommt und ob diese offene, ungeschminkte Darstellung nicht auch Vorurteile bei diesen verstärkt oder die Gefahr birgt, dass sich diese darüber amüsieren und das Gesehene dann vielleicht wenig wertschätzend oder tolerant auf den diversen Social Medias kommentieren.
Andererseits ist das Leben heutzutage in diesem Medienzeitalter eben so- jeder ist viel mehr auf dem Präsentierteller und kann jederzeit von jederman/frau kritisiert oder bejubelt werden. Sich deswegen nicht so zu zeigen und zu geben, wie man ist, wäre auch ungut. Wichtig ist hier wohl v.a., dass man lernt (bzw. angeleitet wird) , sich auch in diesem Bereich gut zu schützen und innerlich gegen Kritik und Trolle zu stärken.
Ich war sehr gerührt und z.T. richtig geflasht von verschiedenen Szenen (z.B. von der wunderbaren Poesie der Worte von Mark, dem musikalischen Heiratsantrag von Thomas, die Zartheit und Rücksichtsnahme von Michael gegenüber seiner DatingPartnerin und auch die uneingeschränkte, liebevolle Akzeptanz des Partners in seinem So Sein von Jimmy und Sharnea).
Die ungeschminkte Aufrichtigkeit und Klarheit in der Sprache, die Toleranz anderen gegenüber und die Fähigkeit, sich von Herzen, wie ein Kind, zu freuen, sind auch hier Eigenschaften, die die Protagonisten und Protagonistinnen besonders auszeichnen. Ich erkenne darin auch die wunderbaren Charaktereigenschaften meiner Tochter, die ich sehr liebe und mir oft wünschte, dass alle Menschen so wären. Dann wäre die Welt sicher eine bessere.
Sie selbst sieht sich diese Serien übrigens nicht an. Zu groß ist da die Angst vor Flashbacks hinsichtlich selbst erlebter Demütigungen durch Mobbing während der gesamten Schulzeit und der Erfahrung, als Autist/-in meist völlig fehleingeschätzt zu werden – insbesondere hinsichtlich ihrer geistigen, aber auch empathischen und emotionalen Fähigkeiten. Und auch, weil sie sich generell nicht so gerne selber im Spiegel betrachtet und es ihr bei solchen Filmen nochmal deutliche wird, dass es nicht einfach ist, als Autist/-in ein glückliches Leben hinsichtlich Partnerschaft und Beruf zu führen.
Abschließend sei auch noch gesagt, dass es mir als Mutte gut getan hat, andere Eltern im Umgang mit ihren erwachsenen, autistischen Kindern zu erleben. Ihre Sorge – aber auch ihre Zuversicht hinsichtlich der Zukunft ihrer Kinder, ihre tiefe Liebe, Verbundenheit und Freude über das Glück, ein besonderes Kind zu haben, ihre Ergriffenheit beim Gedanken an gemeinsam durchgestandene, schwierige und belastende Situationen und ihre verlässliche Unterstützung in jeder Lebensphase ihres Kindes.
Ich bin Autistin, gehe auf die 40 zu und hatte noch nie eine Beziehung. Alle Menschen, Frauen wie Männer, die ich toll fand, haben mich abgelehnt. Mich fand noch nie jemand toll. Ich habe früher sogar mal kurz gemodelt – am Aussehen liegt es nicht. Sondern allein an den für NTs abstossenden Aspekten meiner autistischen Kommunikation. Ich hatte keinen Bock auf diese Serie. Warum nicht?! Ich würde da nie rein kommen und darüber reden dürfen, wie sinnlos mein Leben für mich ist. Wie hoch die Suizidrate von Autisten usw. Wieviele autistischen Frauen wie ich statt lustvollem Sex und Beziehungsglück eher sexuelle Gewalt aufgrund der Naivität kennen (mich eingeschlossen). Wie gefangen ich mich fühle! Das darf alles immer nur niedlich und zuckersüß sein bis zur Diabetes. Ich darf nur existieren, wenn ich gerade ein asexueller Savant bin oder halt in einer Beziehung mit einem anderen Autisten bin. Meinetwegen noch ein autistischer Mann, mit einer hyperempathischen aufopfernden Frau, die von sich selbst sagt, sie würde sich in der Ehe alleine fühlen. Wo ist meine hyperempathische Frau?! (Genderrollen und Autismus und „Kümmern“ – auch eher seltener Thema in sowas.)