Mode als autistische Herausforderung

 

“Du siehst doch gar nicht aus wie ein Autist” ist einer der Sätze, den man deutlich zu oft zu hören bekommen, wenn man sich als Autist*in zu erkennen gibt. Neben dem Fehlen einer sichtbaren Behinderung wird dabei auch immer der Kleidungsstil bewertet, wenn auch nicht bewusst.

Serienfiguren wie Sheldon Cooper, bekannte Autist*innen wie Temple Grandin und in etablierten Serien auftauchende autistische Kunstfiguren sind nach gängigen modischen Maßstäben allesamt schlecht bis grauenhaft gekleidet, und prägen damit ein bestimmtes Bild von Autist*innen, das meines Erachtens nur einen Teil von uns repräsentiert. Auch, wenn sie gefühlt in der Minderheit sind, so gibt es doch autistische Menschen, die Spaß daran haben, sich gut und modisch zu kleiden, sich für Schnitte und Design interessieren und gerne gut aussehen.  Viel öfter aber hört man davon, dass Kleidung für Autist*innen ein schwieriges Thema sei.

Kleidung transportiert Emotionen

In dieser Woche bewegte uns eine dieser Geschichten besonders:
Ein Vater suchte für seine autistische Tochter Maggie ein ganz bestimmtes Kleid, das inzwischen nicht mehr erhältlich ist, und hoffte auf die schon mehrfach erfolgreiche Schwarmdynamik der Twitter-Community.

Neben dem üblichen Unverständnis gepaart mit Menschen, die forderten, man solle das Kind eben zwingen, etwas anderes zu tragen, gab es viel Unterstützung und aufmunternde Worte. Schlussendlich erhielt der Vater Nachricht vom Hersteller des Kleides, der ankündigte, es für Maggie nachzufertigen. Das Internet ist begeistert. Sieht man von der beinahe unangenehm emotionalen Berichterstattung in diesen Fällen ab, ist es tatsächlich ein sehr erfreuliches Ereignis. Doch warum ist die Kleiderfrage so wichtig für Autist*innen?

Kleidung ist sehr viel mehr als als bloß eine Hülle für unsere Körper. Über unsere Kleidung kommunizieren wir auch. Wir drücken damit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Religion aus, geben Auskunft über unsere Herkunft, unsere soziale Schicht, unser Einkommen oder den Überziehungsrahmen unserer Kreditkarte – je nachdem, wie sparsam oder verschwenderisch der jeweilige Mensch ist.

Kommunikationsmittel Kleidung

In manchen kulturellen, religiösen oder beruflichen Kreisen gibt es Kleiderordnungen, die vorgeben, was wir tragen. Diese Vorgaben kennt man seit dem Altertum, sie war ein wichtiges Mittel zur Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung.
Definiert werden diese Kleiderordnungen oft von “weichen Regeln” – sie sind also nicht gesetzlich geregelt, sondern liegen einem gesellschaftlichen Konsens, einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Übereinkunft oder einer bestimmten Erwartungshaltung zugrunde. So trägt man in bestimmten Berufen Anzug oder Kostüm, anderswo darf man casual erscheinen, und in manchen Berufen, wie zum Beispiel in der Pflege oder im Service, gibt es Dienstkleidung.

In Bayern drückt man mit Dirndl und Lederhose die Zugehörigkeit zum Freistaat aus, in Baden-Württemberg rümpft man über die seit einiger Zeit aufgekommene Mode, zum Volksfest bayrische Tracht zu tragen, eher die Nase. Verständlich, hat dieses Bundesland doch eigentlich eine eigene Tracht.

Kleiderordnungen ändern sich also je nach Region, Land, ethnischer Gruppierung, Unternehmens-, Zunft- oder Branchenzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit und nach der Zeit, in der man lebt. Was diese Saison noch beliebt ist, kann ein oder zwei Jahre später verwunderte Blicke erregen.

Kleidung als Kommunikationsproblem

Autist*innen, die Probleme mit zwischenmenschlicher Kommunikation haben, tun sich auch zuweilen bei dieser Kommunikationsform schwer, da Kleidungsregeln nicht schriftlich festgehalten sind und selten ausführlich darüber gesprochen wird. Wenn man im Büro Anzug trägt, ist das eine Hilfe, definiert aber nicht, was man in der Freizeit anziehen sollte. Wie kombiniert man einen eleganten Rock? Was trägt man, wenn man ins Theater geht? Cocktailkleid? Jeans? Welche Schuhe?

Viele autistische Menschen, die es gewohnt sind, oft Fehler zu machen, nehmen dieses Thema nicht sehr leicht. Sie begreifen – wie bei anderen Kommunikationsformen – die Regeln der Kleidersprache nicht intuitiv, sondern müssen sie bewusst analysieren und sich damit auseinandersetzen. Eine größere Zahl Autist*innen interessiert das Thema Mode jedoch nicht.

Kleidung als taktile Herausforderung

Ein weiterer Grund, warum viele Autist*innen dem Thema Kleidung problematisch gegenüberstehen und Funktion über Form stellen, ist ihre taktile Überempfindlichkeit. Autismus betrifft die komplette Wahrnehmung, also auch die Sinnesreize, die wir über unsere Haut empfangen. Taktile Überempfindlichkeit bedeutet, dass die sensorische Wahrnehmung von bereits sehr leichten Berührungsreizen, wie zum Beispiel von Kleidung, als sehr unangenehm empfunden wird. Nichtautist*innen klagen zum Beispiel, wenn sie Pullover aus kratziger Wolle tragen – manche Autist*innen berichten, dass sie eng anliegende Stoffe nicht ertragen können.

Eingenähte Wäscheetiketten, harte Nähte oder ein Rollkragen können ein ernsthaftes Problem darstellen. Da es uns sehr schwer fällt, einzelne Reize auszublenden, kann die falsche Kleidung die Lebensqualität und das Wohlbefinden sehr beeinträchtigen. Wenn Menschen mit Autismus also auf bestimmte Stoffe und Schnitte bestehen, hat das wichtige Gründe. Daraus ein Problem zu machen, ist für mich wenig nachvollziehbar. Warum kann man nicht bevorzugt Hoodies oder T-Shirts aus weichem Baumwollstoff tragen, wenn sie sich am angenehmsten anfühlen? Wem interessiert es, ob das Lieblingsoberteil eigentlich ein Schlaf-Shirt ist, wenn es gepflegt und sauber ist?

Kleidung als Teil der Routine

Routinen ist wichtig. Sie strukturieren unsere Tage, geben uns Kraft und sorgen dafür, dass wir Ressourcen für den stressigen Alltag haben. Auch für Kleidung können Autist*innen Routinen entwickeln. Manche besitzen 5 gleiche Hemden und 5 gleiche Hosen, so dass sich die morgendliche Frage, was man anziehen soll und wie man die einzelnen Stücke kombiniert, gar nicht erst stellt. Andere tragen zu bestimmten Wochentagen bestimmte Kleidungsstücke. Und Maggie trägt eben nur dieses eine Kleid. Abweichungen davon sind Störungen der Routine – diese Störung kann derart überfordern, dass es zu einem Meltdown kommt und ein Weiterführen des Alltags nicht mehr möglich ist.

Wer glaubt, das Kind müsse nun den Rest seines Lebens in diesem Kleid verbringen, irrt und lässt außer Acht, dass auch unser Leben kein Stillstand ist. Autist*innen entwickeln sich. Sie wachsen aus Routinen, entwickeln neue. Das geht bei den einen schneller, bei anderen dauert es Jahre. Entwicklung verläuft niemals nach Plan und autistische Entwicklung hat ihr ganz eigenes, nicht vorhersehbares Tempo. Maggie wird irgendwann etwas anderes anziehen. Nicht nur, weil sie nicht mehr in dieses Kleid passt oder weil man sie zwingt, sondern weil sie dazu bereit sein wird. Wann der Zeitpunkt erreicht ist, wird sie ihren Eltern auf ihre eigene Art signalisieren.

Kleidung als Möglichkeit des Outings

Wir kommunizieren über unser äußeres Erscheinungsbild unsere Persönlichkeit und unterstreichen unsere Individualität, oder aber die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Was man daran nicht sehen kann, ist unsere neurologische Grundvoraussetzung. Man erkennt also nicht am Kleidungsstil, ob wir autistisch sind oder nicht – obwohl sich eine größere Zahl Autist*innen nicht für Mode interessiert, zeigt sich daran kein bestimmtes Muster.

Solange unsere Eltern unsere Kleidung aussuchen, sind wir ihrem Geschmack und ihren modischen Vorstellungen unterworfen. Das kann für das entsprechende Kind mal positive, mal weniger positive Auswirkungen haben.
Wenn Erwachsene sich selbst dafür entscheiden, etwas über ihre Kleidung zu kommunizieren – ihre politische Einstellung, ihre sexuelle Orientierung oder ihren schlechten Humor – so ist das ihre eigene Entscheidung und man darf davon ausgehen, dass sie die Konsequenzen dieser Äußerungen zu tragen bereit sind.

In letzter Zeit las man jedoch häufiger von Eltern, die ihren autistischen Kindern Shirts anziehen, die sie als autistisch outen. Sie meinen damit, das auffällige Verhalten ihrer Kinder erklären zu können oder finden es schlicht niedlich. Es ist aber fraglich, ob sie die Tragweite ihres Handelns wirklich erkennen. Ein unfreiwilliges Outing bedeutet eine Separierung ihres Kindes. Autismus ist noch immer so unterschiedlich und in weiten Teilen negativ konnotiert, dass eine Reaktion nicht absehbar ist. Im harmlosesten Fall reagieren Menschen nicht, im schlimmsten erlebt man massiven Ableismus – eine Reaktion, die uns ein Leben lang begleitet. In unserer Leistungsgesellschaft gibt es noch immer Menschen, die Euthanasie befürworten und niemand sollte einen Kommentar von diesen Menschen hören müssen.

Problemthema Kleidung?

Wir lieben Mode, hassen sie oder ignorieren sie. Wir sind gut angezogen, nachlässig oder praktisch. Wir sind Autist*innen, Nichtautist*innen, Frauen, Männer oder nicht binäre Menschen. Wir wollen uns über unsere Kleidung ausdrücken, wollen auffallen oder unsichtbar sein. Egal, was uns am Herzen liegt – es ist okay. Denn Kleidung muss, auch wenn Autist*innen besondere Anforderungen haben – kein Problemthema sein.

Wir haben alle Möglichkeiten der Welt, uns so zu kleiden, wie wir uns wohl fühlen und können barrierearm online shoppen. Manche Anbieter haben sogar einen Beratungsservice, der je nach Geschmack modische Outfits zusammenstellt. Autist*innen haben viele Probleme, die den Alltag erschweren. Kleidung sollte keines davon sein. Und es sollte vor allem nicht von außen zum Thema gemacht werden. Denn genau wie für neurotypische Menschen ist weder ein vorhandenes noch ein fehlendes Modebewusstsein repräsentativ für uns.

 

7 Gedanken zu „Mode als autistische Herausforderung

  1. Super Artikel! Sehr umfassend und gut beschrieben, und, wie ich finde, auch keine wichtigen Punkte ausgelassen!

    Für mich steht im Alltag im Vordergrund, dass mich meine Kleidung möglichst wenig stören soll. Deswegen gibt es in meinem Kleiderschrank auch fast ausschließlich Kopien derselben paar Kleidungsstücke – für den Außenstehenden trage ich also auch „jeden Tag dasselbe“. Dazu noch alles einheitlich einfarbig.

    Wofür mir jedes Verständnis fehlt, sind Eltern, die ihr Kind in „andere“ Kleidung zwingen, „weil man das so macht“. Wäre es ein neurotypischer Teenager, der plötzlich nur noch schwarz oder nur noch T-Shirts mit der Lieblingsband trägt, würden sie sich ja vermutlich auch nichts weiter dabei denken …

  2. Lustiger Artikel. Ich habe eine Hose an, die mich so nervt, das ich es nicht ausblenden kann. Anders mag ich auch kaum einkaufen gehen. Ich mag das überhaupt nicht. Warum ich oft bestelle. Lustig ist, das Bilder im Netz besser aussehen als was man bestellt hat. So verdient die Post an mir fleißig mit. Ich habe mir das letzte mal vor einem Jahr eine Shirts für 3 Euro als sonderangebot gekauft. Pullover wurden mir geschenkt. Socken haben Löcher wie aus und meine t Shirts sind 2 Nummern zu klein. Schuhe habe ich vor drei Jahren gebraucht bei eBay erstanden für Ca 15 Euro.
    Mo, ich muss Kleider haben, das denke ich schon seit Monaten. Ich denke auch seit Monaten darüber nach ob ich mir die Hose von letztes Jahr März kaufen soll. Klar gibt es die nicht mehr. Ich denke auch nach, welchen Typ ich entsprechen möchte und was man dazu anzieht.
    Alles in einem, Kleider sollten gut aussehen, praktisch sein, leicht und angenehm sein..aber was ist es?

  3. Ich musste letztes Jahr feststellen, dass meine Lieblings–Jeans nach vielen Jahren nicht mehr produziert wird; seither habe ich keinen Ersatz gefunden, der genauso bequem ist … also pflege ich die verbliebenen drei Exemplare Jeans. Auch weil ich Klamotten kaufen sehr anstrengend finde, kaufe ich immer gleich mehrere Stücke, sobald ich etwas gefunden habe, was mir gefällt. Bloß nicht mir darüber Gedanken machen müssen, was ich morgens anziehe — einfach das nächste aus dem Schrank nehmen. Sehr erfreut habe ich vor ein paar Monaten feststellen dürfen, dass meine Lieblings–Schuhe auch nach Jahrzehnten noch immer nahezu unverändert hergestellt werden. 🙂

    Ständig wechselnde Mode ist nur Ausdruck des Konsum–Gruppenzwangs der Wegwerfgesellschaft.

  4. Danke für diesen Artikel, ich finde mich in vielen der beschriebenen Dinge wieder.
    Allerdings ist für mich Kleidung und Kleidung kaufen oft ein Problem.
    Das liegt aber nicht an fehlendem Verständnis für Mode oder passende Farben (ich komme damit klar nicht „In“ auszusehen).
    Meine Probleme beim Kaufen von Kleidung sind, dass ich alles anprobieren muss und online kaufen keine Option ist. In Läden allerdings habe ich mit grellen Lichtern, Musik, Gerüchen und anderen sensorischen Einflüssen zu kämpfen.
    So ist für mich diese Aufgabe nie besonders einfach. Ich würde mich freuen wenn die Öffentlichkeit darauf eingehen würde und es irgendwann einmal autismusfreundliche Einkaufsgeschäfte geben kann.

  5. Obwohl Design und Mode für mich immer ein Thema sind, mein Spezialinteresse und Fachgebiet neben der Botanik und dem Kanu fahren, ist es immer kompliziert für mich gewesen, gut angezogen auszusehen. Aber ich denke, ich habe letztens die richtige Lösung für mich gefunden: back to black – if you’re once gone black, you’ll never come back. Schluß mit Lustigbunt, das fliegt jetzt alles raus und ich bin einfach nur noch autistisch schwarz. 🙂

    Dein Blog ist toll! Finde mich da gerade sehr wieder!

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