„Ob du behindert bist, hab ich dich gefragt!“

Auch, wenn sich Autisten streiten, ob sie eine Behinderung haben oder nicht – Autismus schränkt ein und erschwert das gesellschaftliche Leben, da dieses einfach nicht auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist.
Gerade hochfunktionale Autisten mögen sich oft nicht behindert fühlen und auch ich zitiere gern diesen Ausspruch „It’s not a bug. It’s a feature“ .
Doch Autismus ist per Definition eine anerkannte seelische Behinderung. Dabei macht nicht der Autismus an sich die Behinderung. In einer Welt, in der nur Autisten leben würden, wären wir völlig normal. Es ist die Abweichung von der die Normalität definierenden Masse und die Schwierigkeiten, die diese Abweichung mit sich bringt, die letztendlich eine Behinderung definiert.
„Behindert“ ist unter den meist weniger Gebildeten jedoch noch immer ein beliebtes Schimpfwort, das man öfter im Vorbeigehen aufschnappt. Doch auch Bildung schützt vor Ableismus nicht.


So kommt es, dass der Begriff der Behinderung noch immer sehr negativ konnotiert ist und man am liebsten nicht damit in Verbindung gebracht werden möchte. Aber wie so oft im Leben kann man nur schwer wählen, mit welchen Voraussetzungen man in dieser Welt ausgestattet wird.

Wann ist man schwerbehindert?


Der Antrag auf Behinderung wird beim örtlichen Versorgungsamt gestellt. Der Grad der Behinderung (GdB) wird in Zehnerschritten zwischen 20 und 100 bemessen, die oft fälschlicherweise als Prozent bezeichnet werden. Bei der Bemessung des GdB spielt die Höhe der Beeinträchtigung bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eine Rolle. Die konkrete Bemessung unterliegt den jeweiligen Versorgungsämtern und deren Eischätzungen. Dabei stützen sie sich auf Arztberichte, Gutachten, bitten aber auch gelegentlich um die Möglichkeit der persönlichen Einschätzung. Ab einer Behinderung mit dem Grad 50 gilt die antragstellende Person als schwerbehindert, was bedeutet, dass die Funktion des Körpers, die geistige Gesundheit oder das seelische Wohl für mindestens sechs Monate von dem altersbedingten Zustand abweicht. Zudem erhält man einen ästhetisch fragwürdigen Behindertenausweis im Scheckkartenformat.
Durch diese Einschätzungskriterien kann also ein an Krebs erkrankter Mensch, der unter starken körperlichen Einschränkungen durch seine Therapie leidet, ebenso schwerbehindert sein wie ein stark Depressiver oder ein Gliedmaßenamputierter.

Autismus als Behinderung

Die Frage, ob man nun als Autist einen Antrag auf Schwerbehinderung stellen sollte, gehört zu jenen, die die Gruppe der Autisten in zwei Lager spaltet. 
Da gibt es die Seite, die aufgrund ihrer Einschränkung einen Behindertenausweis und die dadurch entstehenden Vorteile als notwendig erachtet und ihn zur Erleichterung im Leben nutzt.
Ihr gegenüber stehen die anderen, die eine Schwerbehinderung und oft auch das Outing als Autist als Karrierekiller und Grund schlimmer Diskriminierung betrachten und streng davon abraten.

Die Vorteile einer Schwerbehinderung

Bei Behinderung von Vorteilen zu sprechen ist ein bisschen, als würde man sich über sein kaputtes Auto freuen, weil man jetzt endlich mal zur Arbeit laufen kann – also ziemlich merkwürdig.
Als Schwerbehinderter hat man von Rechts wegen aber einige Vorteile, die helfen sollen, um gleichberechtigt am Leben teilzunehmen, zum Beispiel:

–  Besonderer Kündigungsschutz
Einer schwerbehinderten Person darf nur der Arbeitsplatz gekündigt werden, wenn das Integrationsamt zustimmt. Oft ist das jedoch nur eine Formsache.

– Beschäftigungspflicht
Ein Arbeitgeber, der mindestens 20 Arbeitnehmer beschäftigt, ist gesetzlich dazu verpflichtet, fünf Prozent seiner Arbeitsplätze an schwerbehinderte Menschen zu vergeben. Macht er das nicht, fallen besondere Abgaben an.

– Diskriminierungsverbot
Bei einer Kündigung aufgrund der Schwerbehinderung steht dem Schwerbehinderten eine Entschädigung in Form einer finanziellen Leistung zu.

– Urlaub
Einem Schwerbehinderten steht eine zusätzliche Urlaubswoche im Kalenderjahr zu.

– Steuer
Gehbehinderte können sich von der KFZ-Steuer befreien lassen. Der Haushaltsfreibetrag für Schwerbehinderte ist ebenfalls höher. Beides muss jedoch mit den entsprechenden Merkzeichen G gesondert beantragt werden. Dies kann auch für Autisten interessant sein, da unter das Merkzeichen G auch die Orientierungsfähigkeit fällt.

Auch die Beantragung einer gesetzlichen Betreuung, der Nachteilsausgleich im Studium und noch viele weitere gehören zu den Punkten, an denen Schwerbehinderten entgegengekommen wird.

Und die Nachteile?

Der besondere Kündigungsschutz schreckt einen Arbeitgeber natürlich ab. Die Vorstellung, einen Angestellten nur noch unter komplizierten Bedingungen los zu werden und gegebenenfalls einen Streit mit dem Integrationsamt zu provozieren, erfüllt keinen Chef mit Freude, auch, wenn das nur Mythen sind.
Vorurteile gegenüber Behinderten, besonders Autisten, sind zudem noch immer die Regel und wer möchte sich denn schon gern einen verschrobenen Einzelgänger ins Büro holen, der acht Stunden pro Tag Büroklammern nach Farbe sortiert statt fröhlich zu arbeiten? Und fühlen sich die anderen Angestellten vielleicht sogar benachteiligt, wenn sie weniger Urlaub bekommen oder nicht das Einzelbüro, das ein Autist aufgrund seiner Reizfilterschwäche benötigt? Dass dies aber im Einzelfall zu betrachten ist und es natürlich auch genug Autisten gibt, die im normalen Büroalltag zurechtkommen, bleibt dabei gern unbedacht. Kommunikation ist in diesem Fall alles, doch so weit kommt es oft nicht, wenn Vorurteile und falsche Vorstellungen derart groß sind.

Sag ich’s oder sag ich’s nicht?

Über die Frage, ob man seine Schwerbehinderung offenlegen muss oder nicht, wird viel gestritten. Die Fakten sind jedoch klar: Das Versorgungsamt, bei dem der Antrag auf Schwerbehinderung gestellt wurde, weiß auch von dieser. Sonst jedoch niemand, solange man es nicht selbst angibt, auch, wenn das Internet bzw. dessen User oft anderer Meinung sind. 
Der Arbeitgeber, die Krankenkasse, das Arbeitsamt, all diese Menschen und Behörden können nur darüber informiert sein, wenn man es ihnen auch sagt. Und die Entscheidung darüber obliegt dem Schwerbehinderten selbst. 
Die Frage nach einer Behinderung ist beim Einstellungsgespräch ebenso unzulässig wie die nach dem Kinderwunsch bei Frauen im gebärfähigen Alter. Man muss darauf nicht oder nicht wahrheitsgemäß antworten. Sollte man aber bei der Einstellung, spätestens jedoch nach Ablauf der Probezeit den Arbeitgeber nicht über seine Schwerbehinderung informiert haben, kann man auch die oben genannten Vorteile nicht in Anspruch nehmen beziehungsweise einfordern.

Fazit

Letztendlich bleibt es jedem selbst überlassen, einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung zu stellen und diese dann auch anzugeben. Die Angst vor Diskriminierung, mit der die meisten Autisten schon ausreichend Erfahrung machen mussten, ist berechtigt und muss ernst genommen werden. Zu oft passiert es, dass wir auf Grund von Vorurteilen oder Fehlinformationen ausgeschlossen oder benachteiligt werden. Die Suche nach einem Arbeitsplatz ist für einen Autisten, egal ob mit anerkannter Schwerbehinderung oder nicht, von sehr vielen Schwierigkeiten und Problemen begleitet und gestaltet sich oft beinahe aussichtslos.
Fakt ist jedoch, das niemand von der eigenen Schwerbehinderung erfährt, wenn man es selbst nicht möchte. Es gibt keine geheime Kommunikation zwischen Ämtern und Behörden, bei denen Informationen über Schuhgröße, Gesundheitszustand, Grad der Behinderung und Lieblingsschokolade einzelner Personen ausgetauscht werden. Wer das glaubt, dem sei an dieser Stelle eine Nachhilfestunde in Persönlichkeitsrecht empfohlen.

2 Gedanken zu „„Ob du behindert bist, hab ich dich gefragt!“

  1. Frage:
    Habe gehört, dass man als Schwerbehinderter auch 6 Tage Zusatzurlaub haben kann. Stimmt das?

    Antwort:
    Bemessung des Zusatzurlaubs
    Verteilt sich die regelmäßige Arbeitszeit des vollzeitbeschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmers auf mehr oder weniger als 5 Arbeitstage in der Woche, erhöht oder vermindert sich der Zusatzurlaub entsprechend. Arbeitet er z.B. an 4 Tagen in der Woche, stehen ihm auch nur 4 Tage Zusatzurlaub zu. Verteilt sich die Wochenarbeitszeit auf z.B. 6 Tage, beträgt der Zusatzurlaub ebenfalls 6 Tage. Auch bei Teilzeitarbeit von schwerbehinderten Arbeitnehmern ist die Verteilung ihrer Arbeitszeit auf die Wochentage maßgeblich (z.B. 3 Arbeitstage pro Arbeitswoche = 3 Tage Zusatzurlaub). Die Urlaubsdauer ist aber stets auf eine Arbeitswoche begrenzt.

    Quelle: (http://www.schwbv.de/zusatzurlaub.html)

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