Neurodiversität im Beruf – Teil 6: Gerlinde

Wie geht es autistischen Menschen am Arbeitsplatz? Sprechen sie über ihre Diagnose oder verheimlichen sie sie? Welche Erfahrungen haben sie gemacht? Wie gestalten sie ihren Tag? Mit welchen Schwierigkeiten sind sie konfrontiert?

Diese Fragen durfte ich mehreren Autist*innen stellen.

Gerlinde: “Diversität sollte sich nicht nur auf Geschlecht und Herkunft beschränken, sondern auch die Kommunikations- und Wahrnehmungsunterschiede mit einschließen.”

Neurodiversität ist mehr als nur Autismus – neben Dyskalkulie, Legasthenie und Dyspraxie gehört auch AD(H)S dazu.
Bei Gerlinde wurde ADHS diagnostiziert. Ihr war schon sehr früh klar, dass sie anders ist, dass sie Probleme und Talente hat, die anderen unbekannt sind. Sie hat einen kreativen und technisch anspruchsvollen Beruf gefunden, der sie fordert und in dem sie sich mit ihrem Sein gut einbringen kann, der sie aber auch vor Herausforderungen stellt. 


Hallo Gerlinde! Was machst du beruflich?

Ich bin Videojournalistin und Motion Designerin. Also ich mache vor allem Erklärvideos vor Greenscreen mit einem*r Moderator*in oder komplett animiert mit kleinen Charaktern.

Ich bin da auch eher über Umwege hingekommen. Eigentlich hatte ich Motion Design studiert, das heißt ich hab die Grundlagen von Design und Illustration genauso gelernt, wie die Grundlagen von Film, Schnitt und 2D- und 3D-Animation. Ich bin inzwischen mehr auf Schnitt und 2D-Animation spezialisiert.

Nach dem Studium habe ich erstmal Produktvideos für einen Computer Hardware Shop gemacht und war da sehr unglücklich. Es war ein sehr hartes Umfeld. Es bestand überwiegend aus Männern und sexistische Witze waren da an der Tagesordnung. Allerdings habe ich da gut gelernt, auch langweilige Aufgaben gut zu einem Ende zu bringen und bin für den Teil der Erfahrung doch ganz dankbar. Ich war da vier Jahre bis ich durch Glück und Zufall in den Journalismus gewechselt bin.

Seitdem blühe ich richtig kreativ auf, da ich meine Ideen gut einbringen kann und mir selbst meine Themen und Aufgaben suchen kann. Durch den vorherigen Job allerdings habe ich gut gelernt, dass Dinge auch mal fertig werden müssen.

Wurdest du als Erwachsene mit ADHS diagnostiziert? Wie kam es dazu?

Ich wurde erst Anfang diesen Jahres diagnostiziert, also im März 2019. Ich dachte ja lange, sowas wie ADHS könne ich ja nicht haben, weil ich gar nicht so hyperaktiv und sprunghaft bin. Ich hätte vieles nur einfach nicht so gut im Griff wie andere oder sei lediglich einfach faul und nicht lebensfähig.

2013 hatte ich eine schlimme depressive Phase, in der ich gar nichts mehr hinbekam. Rechnungen blieben liegen, ich verließ das Haus eigentlich nur noch zur Arbeit. Es ging mir wirklich schlecht.

Ich arbeitete in meinem ersten Job und das war auch nicht sehr einfach. Damals fand ich leider keine*n gute*n Therapeut*in. Also stand ich die Phase so durch und als es mir besser ging, merkte ich, dass einige Sachen immer noch komisch waren.

Durch zwei engere Freund*innen kam ich auf den Autismusverdacht und so landete ich schließlich in einem längeren Diagnoseprozess dazu. Dabei kam das erste Mal der Hinweis: Lassen Sie sich doch mal auf ADHS untersuchen. Leider war der Arzt, der mit mir die die abschließende Auswertung durchging, voreingenommen und wollte mir Sozialängste unterstellen, die ich in der Form aber gar nicht hatte.

Ich las erst auf dem Bogen selbst, dass da fett gedruckt stand, es würde ein ADHS-Verdacht bestehen. Ich war so frustriert davon wie in dem Verfahren mit mir umgegangen worden war, dass andere Dinge erstmal wichtiger schienen.

Letztes Jahr wurde dann eine sehr gute Freundin diagnostiziert. Sie war eigentlich auf der Kur wegen einer chronischen Schmerzerkrankung und als sie die Diagnose bekam, dämmerte es mir: Wenn sie das hat, dann muss ich das auch haben. Alle Verhaltensstragien, die mir durch den Tag und das Leben halfen und vieles besser gemacht hatten, hatte ich von ihr kopiert.

Wie äußert sich dein ADHS im Berufsalltag? Macht es dir die Arbeit leichter oder schwerer? Beeinflusst es den Kontakt zu deinen Kolleg*innen?

Für mich ist unglaublich schwierig mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren oder gar anzufangen.
Schwierig ist zum Beispiel auch, wenn ich akut Kummer habe oder mich sonst etwas emotional aus der Bahn wirft, dann noch zu arbeiten, ist oft schier unmöglich vor allem, wenn die Aufgabe gerade nicht so spannend ist.

Über die Jahre habe ich inzwischen einen Umgang gefunden, wie ich mich ein wenig austricksen kann. Ich mach dann viele kleine Dinge, damit erstmal überhaupt irgendetwas erledigt ist. Das ist immer noch besser als in Schockstarre zu verfallen und nichts zu tun und am Ende, wird man auch irgendwie fertig.

Mit Kolleg*innen hatte ich immer mal das Problem, dass wenn ich gerade sehr konzentriert und zu fokussiert war und ich gestört werde, oft etwas ruppig reagiert habe. Das hat schon immer mal zu Verstimmungen gesorgt, weil meine Reaktion unangemessen wirkten. Ein*e Kolleg*in kann ja nicht ahnen, wie hart es für mich ist, wieder in den gleichen Zustand an Konzentration zu kommen oder wie viel Stress das für mich ist, wenn sowas mehrfach am Tag passiert.

Außerdem sage ich manchmal Dinge zu direkt und impulsiv. Ich versuche inzwischen eine Sekunde länger nachzudenken und wie ich ein Problem diplomatischer anspreche, damit mein Gegenüber nicht vor den Kopf gestoßen ist.

Warum hast du dich zu der Offenheit mit der Diagnose entschlossen und welche Erfahrungen hast du damit gemacht?

Ich denke manche meiner Reaktionen machen mehr Sinn, wenn man versteht, was dahinter steckt. Das interessiert vielleicht nicht jede*n, aber einige reagieren sehr interessiert und ich merke, dass dadurch bessere Lösungen entstehen oder mir eine impulsive Reaktion nicht so übel genommen wird. Dann kann ich ruhiger nochmal durchatmen und der*die andere weiß dann, dass ich eigentlich nur überreizt bin, aber nichts gegen sie oder ihn speziell habe.

Ich hatte zum Beispiel auf Arbeit das Problem, dass es mir in einer Sitzkonstellation zu laut war und ich war sehr dankbar wie toll meine Chefin damit umgegangen war, nachdem ich auch angesprochen hatte, was das mit mir und meiner Kreativität macht im Zusammenhang mit meinem ADHS. Das schaukelt sich ja auch über die Zeit hoch. Wir haben dann zusammen mit den anderen besprochen, wie wir das lösen. Ich sitze jetzt in einem viel ruhigeren Raum und merke, wie ich wieder zur Ruhe komme und wieder gut gelaunt und schneller arbeite.

Hast du schon einmal berufliche Hilfsangebote in Anspruch genommen? Ein Job-Coaching oder eine andere Maßnahme?

Bisher nicht.

 Hast du dir die professionellen Soft Skills, die Menschen mit einer Neurodiversität oft so schwer fallen, selbst erarbeitet und kannst Ratschläge für das Erlernen geben?

Teils, teils würde ich sagen. Ich bin unfassbar unsicher mit sozialen Gruppensituationen und denen kann man ja im Berufsalltag gerade mit Bürojob nur schwer entgehen.

Ich versuche sehr viel damit zu kompensieren, dass ich Sachen einfach sachlich vortrage mit Vor- und Nachteilen und das klappt meist gut. Ich merke, dass mir oft schwer fällt auf die anderen einzugehen mit Lob und Kritik. Mir wurde schon zurückgemeldet, dass ich etwas distanziert und emotionslos wirke, aber eigentlich ist das nur mein Schutzmechanismus, weil ich sonst schnell zu begeistert bin oder zu sehr kritisiere, da kommt schnell die Impulsivität durch.

Gerade bei Kritik achte ich inzwischen sehr darauf, dass ich immer auch was positives mitgebe und auch was lobe, was ich gut fand und immer auch mitgebe, was ich anders machen würde oder für mich nicht gut funktioniert hat, also so konstruktiv wie möglich. Ich hab da aber auch bei mir gemerkt, was mich so demotiviert. So Anmerkungen wie “Finde ich nicht gut” oder “Ist scheiße”, lassen mich nur ratlos zurück.

Wenn ich unsicher bin, hab ich inzwischen sehr gute Freund*innen, die ich einfach frage. Ich schildere die Situation und wir gehen das dann gemeinsam durch. Das gibt mir dann noch mal eine neue Sichtweise.
Weil ich zwar viel wahrnehme, aber oft auch mal falsch interpretiere, weil ich eben in einigem anders funktioniere. Mich hat es sehr weitergebracht mein Umfeld um Hilfe zu bitten. Oder wenn ich unsicher war, ob ich vielleicht irgendwie komisch war, frag ich auch manchmal einfach nach. Ich kann es eben oft nicht einschätzen.

In meinem ersten Job ist es mir tatsächlich mal passiert, dass ich mit Fieber und krank auf Arbeit war und ich nicht merkte, wie schlimm es war. Als ich gehen wollte und mein Vorgesetzter eine Bemerkung machte, die mir unangemessen vorkam, entglitt mir ein “Arschloch”. Ich hatte das gar nicht gemerkt, erst als er es wenig später noch mal ansprach, war mir klar, dass ich das wohl nicht nur gedacht hatte. Ich achte inzwischen darauf, dass sowas nicht mehr vorkommt. 

Wie entspannst du dich nach einem harten Arbeitstag oder einem längeren Projekt? Helfen dir Urlaube oder sind sie eher ein Stressfakor?

Nach einem harten Arbeitstag versuche ich keine Pläne zu haben, also nur nach Hause kommen und auf dem Sofa rumhängen. Vielleicht noch mal in die Badewann. Ich finde der entspannteste Ort ist ohnehin so ein heißes Bad. Gerade nach einem langen Arbeitstag kann ich so gut meine Gedanken treiben lassen und meine Gefühle sortieren.

Urlaube helfen sehr, dürfen aber ein nicht zu anspruchsvolles Programm haben. Mir ist inzwischen auch aufgefallen, ich brauche auch im Urlaub und an freien Tage eine feste Struktur, die mich ein wenig zusammenhält. Also eine Sache, die ich erledige oder eine kleine Freude, die ich mir mache.

Sport hilft mir auch sehr. Ich lasse das immer wieder mal schleifen, aber ich merke, sobald ich wieder regelmäßig laufe, bin ich generell wieder entspannter. Das Laufen selber mag ich nicht, aber ich liebe die Müdigkeit und das Glücksgefühl sehr danach. Generell entspanne ich am besten alleine vor dem Fernseher oder spiele etwas auf meiner Playstation. 

Tauscht du dich mit anderen Neurodiversen aus? Zum Beispiel über Probleme, Sorgen und Themen, die klar mit unserem Sein zusammenhängen?

Ich habe inzwischen ein sehr gutes Netzwerk aus anderen ADHSler*innen und auch ein paar Autist*innen und das hilft sehr.
Wir tauschen uns viel aus und es hilft gegen den Alltagsfrust. Gerade wenn Situationen immer wieder auftauchen und mich frustrieren, tut es unfassbar gut, wenn da noch jemand ist, dem oder der es ähnlich erging und der*diejenige vielleicht auch schon einen Lösungsvorschlag hat, der auch meine Bedürfnisse berücksichtigt. 

Hast du Ideen, welche vom Arbeitgeber, Jobcenter oder Inklusionshilfe integrierten Maßnahmen in einem Berufsalltag wie deinem helfen könnte? Das können z.B. Kurse sein, Mehrurlaub , Unterstützung des Jobcenters/AMS oder personelle Hilfen.

Ich glaube, dass bei den meisten Dingen, die ich verbessert haben wollte, auch die meisten neurotypischen Menschen mit profitieren würden.

Diversität sollte sich nicht nur auf Geschlecht und Herkunft beschränken, sondern auch die Kommunikations- und Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Menschen mit einschließen.

Ich finde es wird viel zu wenig darüber geredet, wie wir eigentlich untereinander diese Bedürfnisse richtig kommunizieren. Damit bestimmt schnell dann die Mehrheit im Raum, was in Ordnung und akzeptabel ist.

Gerade introvertierte Menschen oder eben Neurodiverse, die atypisch kommunizieren, leiden dann darunter, weil sie es nicht schaffen, ihre Bedürfnisse unterzubringen oder zu kommunizieren.

Würdest du deinen Beruf wieder ergreifen? Kannst du dir vorstellen, mit deinen heutigen Erfahrungen etwas auf deinem Weg anders zu machen?

Meinen Job als Motion Designerin und Videojournalistin würde ich jederzeit wieder ergreifen.

Ich glaube, es wäre sehr hilfreich gewesen, früher diagnostiziert zu werden. Es hätte eine Menge abgekürzt auf meinem Weg und mein Selbstvertrauen wäre sicherlich besser durchgebacken.

Ich lerne jetzt erst langsam, wie ich mit mir umgehen muss, damit ich mich nicht überarbeite, aber auch nicht unterfordert bin. Das richtige Maß ist mit ADHS immer sehr schwer. Ich bin entweder komplett unterfordert oder überlastet. Inzwischen schaffe ich das aber mehr als einen Prozess zu sehen und versuche mich weniger an den anderen zu orientieren, sondern an meinen Fortschritten. Also weniger sauer auf mich zu sein, wenn ich mal nicht so leiste. Tage, an denen ich weniger mache, sind eben Regenerationstage und dem folgen wieder Tage, an denen alles in Windeseile erledigt ist.

Ich liebe aber sehr, dass mein Job als Filmemacherin so vielseitig ist und ich mich in immer neue Themen einarbeiten kann. Sowohl inhaltlich als auch technisch. Das wird nie langweilig.



Teil 1 der Serie: Claudia: “Durch meine Offenheit ergänzen wir uns gut.”

Teil 2: Simone: „Manchmal geht es auch ohne institutionelle Hilfen.“

Teil 3: Klara: “Sich als Psychologin mit Autismus zu outen würde nicht gut ausgehen.”

Teil 4: Paul: „Entspannung ist eher schwierig für mich, weil ich einer der Menschen bin, die immer Input brauchen.“

Teil 5: Marie: “Wenn Deine Weitsicht durch das Wissen über deinen Autismus relativiert wird, ist das kein schönes Gefühl.”

2 Gedanken zu „Neurodiversität im Beruf – Teil 6: Gerlinde

  1. Gerlinde Teil 6,
    Darf ich nochmals nachfragen, da ich es nicht ganz verstehe….ob Gerlinde jetzt ADHS diagnostiziert bekommen hat UND Autismus? Oder ist es nur ADHS?
    Ansonsten finde ich diese Berufsbeiträge sehr sehr toll und hilfreich, da ja nicht alle Autisten arbeitslos oder gar keine Ausbildung machen können, sondern viele sind sich am durchkämpfen durchs Leben, Freundschaften, Familie und Arbeit. Mir kommt es auch oft so vor als aale ich mich irgendwie durch, es klappt irgendwie Recht und nicht Schlecht, aber auch nicht Gut….

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