Behindert werden, behindert sein.

Geht es um Behinderungen, wird in Österreich der Begriff „Menschen mit Beeinträchtigungen“ bevorzugt. Das Wort “behindert” wird in manchen Berufsgruppen sogar zum No-Go erklärt. Es muss zum Beispiel im pädagogischen Bereich zwingend vermieden werden. Benutzt man es, ruft man Entsetzen hervor und wird umgehend belehrt. Denn nichtbehinderte Menschen, Organisationen, Firmen, NGOs – alle meinen, mit der Floskel “Menschen mit Beeinträchtigungen” auf der politisch korrekten Seite zu sein. Sie sind es nicht. 

Es gibt zahlreiche Euphemismen, wenn es um das Thema Behinderung geht: Menschen mit Handicap, Menschen mit Besonderheiten oder besonderen Bedürfnissen, Andersbegabte. Aber Euphemismen erreichen nur, dass Nichtbehinderte sich besser fühlen, sie verändern nicht, verbessern nicht. Sie bilden nicht die Lebensrealität Behinderter ab, denn auf die Toilette zu gehen oder ein Gebäude zu betreten sind keine “besonderen Bedürfnisse”. Am Leben teilzuhaben ist kein “besonderes Bedürfnis”. Etwas, was ganz normal ist, “besonders” zu nennen, ergibt keinen Sinn und exkludiert die betroffene Person. Auch „Handicap“ ist ein Begriff, den behinderte Menschen aus vielerlei Gründen ablehnen, was Nichtbehinderte stoisch ignorieren.

Beschönigende Begriffe schaffen keine Inklusion, im Gegenteil. Euphemismen, bei denen sich die Verhältnisse nicht ändern, nehmen im Laufe der Zeit die negative Konnotation des Vorgängerausdrucks an. Wenn das hinter dem Begriff liegende Konzept von Diskriminierung und Abwertung nicht dekonstruiert wird, nehmen die neuen Begriffe die alten Muster und Bedeutungen an. Man gerät in die sogenannte Euphemismus-Tretmühle. Und schon bald ist man auf der Suche nach einem noch blumigeren Ausdruck, statt das eigentliche Problem zu lösen. 

Schönfärberei

Umschreibungen für das Wort “behindert” sind nichts anderes als “abled washing” – der Versuch, sich als besonders behindertenfreundlich darzustellen, ohne es zu sein. Der Begriff ist abgeleitet vom schon länger gebräuchlichen “greenwashing”. Damit bezeichnet man Unternehmen, die durch PR- und Marketingmaßnahmen umweltfreundlich und verantwortungsbewusst erscheinen möchten, ohne dass sie es mit konkreten Ergebnissen belegen oder beweisen können. Einen positiveren Ausdruck für einen vermeintlichen Missstand zu finden, verbessert den Missstand nicht. Aber man erreicht, dass der Missstand für eine Zeit lang weniger sichtbar ist.

Was genau ist das konkrete Problem an dem beliebten Ausdruck „Menschen mit Beeinträchtigungen“?
Wenn wir von Behinderung sprechen, dann meinen wir damit Behinderung im sozialen Modell. Beim sozialen Modell der Behinderung ist nicht der behinderte Mensch und dessen individuelles, tragisches Schicksal das Problem. Diese Sicht gilt als veraltet und wird im medizinischen Modell dargestellt. In dieses medizinische Modell verorte ich nach meinem Empfinden auch das Wort “beeinträchtigt”, ebenso wie ich ihm “beschädigt” und “eingeschränkt” zuordnen würde.

Das soziale Modell identifiziert die Gesellschaft als Problem. Diese baut Barrieren, so dass von der Norm abweichende Menschen keine oder unzureichende Teilhabe an der Gesellschaft haben, also behindert werden.
Behinderung ist in diesem Modell kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation. Es stellt Behinderung in den Kontext sozialer Unterdrückung und Diskriminierung und macht es damit zu einem sozialen Problem. Dieses Modell steht im direkten Gegensatz zum medizinischen und verneint körperliche Ursachen als behindernd. Das ist eine Chance, Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch einer der größten Kritikpunkte am sozialen Modell.

Das kulturelle Modell der Behinderung geht noch einen Schritt weiter. Es stellt die individuellen Probleme und die sozialen Barrieren in Frage und will wissen: „Wie und warum wird – historisch, sozial und kulturell – eine Randgruppe wie die ‚der Behinderten‘ überhaupt hergestellt?” (Anne Waldschmidt, 2005) Wir werden in diesem Modell dazu aufgefordert, uns konkret mit Ausgrenzungsmechanismen, ihrem Entstehen und ihrem Grund auseinanderzusetzen. Wie entsteht die Kategorie Behinderung und was bedeutet die ihr entgegenstehende “Normalität”? Warum gibt es diese zwei scheinbar gegensätzlichen Gruppen? Wie bedingen sie einander?

Problemverschiebungen

Sieht man sich das alles an einem konkreten Beispiel an, zum Beispiel an meinem Autismus, so bin ich damit genau richtig so wie ich bin. Ich habe für mich gesehen kein Problem. Das Problem entsteht, wenn der Faktor Gesellschaft dazukommt. Ich habe keine volle Teilhabe an der Gesellschaft. Sie ist nicht inklusiv und stellt mir viele Barrieren entgegen. Das betrifft ausnahmslos jeden Lebensbereich – Freizeit, Arbeit, Gesundheitsversorgung, kulturelle Teilhabe. Spreche ich von mir als behindertem Menschen, dann mit dem Hintergrund, dass die Gesellschaft mir Teilhabe verwehrt und somit die Behinderung entsteht.

Der Begriff „Mensch mit Beeinträchtigung“ schiebt meiner Meinung nach das Problem aber zu mir, anders als das Wort “Behinderung”, das ich als wertneutrale Beschreibung verstehe. Bin ich beeinträchtigt, dann bin ich fehlerhaft. Ich als individuelle Person bin schuld daran, nicht an der Gesellschaft teilhaben zu können, weil ich ja diese Beeinträchtigung habe, die mich davon abhält. Die Gesellschaft ist fein raus, sie hat die Verantwortung über die mangelnde Teilhabe zu mir abgeschoben. Super, oder?

Mit diesem kleinen Perspektivenwechsel sind wir mitten in dem weit verbreiteten behindertenfeindlichen Denken, mit dem man Menschen in Heime und Werkstätten weitab der Gesellschaft schiebt. Sie haben ja Schuld, sie sind fehlerhaft. Sie schaffen es nicht, an der Gesellschaft, so wie sie ist, teilzuhaben. Da kann man nichts machen, außer ein bisschen Mitleid haben und ab und an spenden. Der behinderte Mensch als almosenempfangend, als wohlfahrtsbedürftig. Als wäre das Konstrukt, in dem wir leben, in Stein gemeißelt, unveränderlich und bestünde genau so seit Anbeginn der Zeiten. 

Valide Selbstbezeichnungen.

Auch, wenn der Begriff “Mensch mit Behinderung” in der UN-Behindertenrechtskonvention verwendet wird und somit eine ausreichende Grundlage als valide Selbstbezeichnung hat, ist mir bewusst, dass es auch Behinderte gibt, die das anders sehen. Wir sind keine homogene Gruppe, die nur eine einheitliche Meinung vertritt. Ich respektiere jede behinderte Person, die anders genannt werden will, nicht aber nichtbehinderte Personen, die die Begrifflichkeiten über unseren Kopf hinweg festlegen wollen. 

Mehr zur Selbstbezeichnung und zum Behinderungsbegriff lest ihr zum Beispiel bei Leidmedien und BIZEPS.

4 Gedanken zu „Behindert werden, behindert sein.

  1. Ich stimme Deinen Ausführungen zu. (Und erfreue mich übrigens Deiner eloquenten Ausdrucksweise.)

    Ich, 52, bin Aspie plus seit Jahrzehnten schleichen zunehmend hörbehindert (neurale Schwerhörigkeit – der Supergau, da wir Aspies auf verbale Kommunikation angewiesen sind).

    Selbstverständlich BIN ich behindert.

    Erstens im medizinischen Sinn. (Was aber den ach so „sozialen“ Staat nicht interessiert, seine Schlupflöcher aus der Verantwortung sind zahllos.)

    Zweitens im zwischenmenschlichen, da Gesunde null Lust verspüren, Rücksicht zu nehmen; es gibt ja genug Gesunde, wozu sich abgeben mit Behinderten, das bringt höchstens einen schlechten Ruf und erinnert an die eigene Verwundbarkeit / Sterblichkeit, die chronisch verdrängt wird.

    Meine persönliche Lösung: von niemandem nichts erwarten und mein Leben leben. Aber auch auf keinen mehr Rücksicht nehmen; meine Langmut mit Gesunden ist restlos aufgebraucht.

  2. Sehr interessante Ausführung.

    Aber wäre es bei „beeinträchtigt“ nicht das gleiche, je nach Verwendung?
    Ich sehe keinen Unterschied in „von der Gesellschaft behindert werden“ und „von der Gesellschaft beeinträchtigt werden“.
    Aus meiner Sicht ist also die Verwendung/Aussageabsicht hinter dem Begriff der wichtige Punkt, also „behindert/beeinträchtigt sein“ vs „behindert/beeinträchtigt werden“ anstatt „behindert“ vs „beeinträchtigt“.

    Falls ich irgendwo das Problem falsch verstanden habe, würde ich mich über eine Erklärung freuen, wo mein Denk- oder Verständnisfehler liegt.

    1. Ja, man kann „beinträchtigt“ synonym zu „behindert“ verwenden. Darum schreibe ich, dass ich nach meinem Empfinden das Wort “beeinträchtigt”, ebenso wie ich ihm “beschädigt” und “eingeschränkt” dem medizinischen Behinderungsmodell zuordnen würde. Beide Wörter können aber auch im Sinne des sozialen Modells, also „behindert/beeinträchtigt werden“ verstanden werden. Ich argumentiere mit meiner persönlichen Meinung und meinem individuellem Wortverständnis. Mir ist klar, dass es andere Meinungen dazu gibt und diese ebenfalls valide sind.

  3. Ich sag es mal so viel. Das medizinische Modell der Behinderung hat schon seine Berechtigung. (Zum Teil.) Als Autist hat man oft auch mit anderen Autisten durch seine Störung Probleme. Und man kann diesen anderen Autisten nicht einfach „Diskriminierung“ unterstellen.

    Meine Erfahrung mit der Kategorie der Behinderung ist aber folgende: Man wird sobald man als behindert gilt, von allen Seiten paternalisiert. (Und dazu zähle ich extrem viele Neurodiversity/Inklusions Leute explizit mit. Die sind genau so.) Von allen Seiten wird einem erzählt, was man tun muss und was man angeblich braucht, um ein gutes, inkludiertes Leben zu haben. Nur was man selbst will, das ist komplett egal.

    Dies war mit ein Grund, warum ich mir irgendwann gewünscht habe, man könnte meinen Autismus heilen. Weil ich dachte, wenn mein Autismus geheilt würde, dann wäre ich endlich diese scheiss Gesellschaftsklemptner los, die mich im Namen der ach so tollen Inklusion in Dinge zwingen wollen, die ich nicht will, und mir noch sagen, dass ich für das, was ich will, böse und sexistisch sei.

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