Der Corona-Virus und COVID-19: Erfahrungsberichte mit der Ausgangsbeschränkung

In Österreich haben wir bereits fünf Tage mit Ausgangsbeschränkung verbracht – eine Maßnahme der österreichischen Regierung, um die Verbreitung von Covid 19 zu verlangsamen. Vier weitere Wochen liegen noch vor uns. Bayern hat nun ebenfalls reagiert und vorerst für den Zeitraum von zwei Wochen eine Ausgangsbeschränkung mit ähnlichen Bedingungen wie in Österreich erlassen. Sicherlich werden in den kommenden Tagen weitere Bundesländer Maßnahmen ankündigen.

Auch, wenn man neue Routinen etabliert und die Alltagsstruktur anpasst, kostet manchen Menschen das Verarbeiten dieser neuen Situation viel Kraft. Besonders für neurodiverse Menschen sind Veränderungen jedweder Art sehr herausfordernd.
Ich habe neurodiverse User*innen auf Twitter gebeten, von ihren Erfahrungen der letzten Tage zu berichten. Davon, was gut funktioniert hat, aber auch von den Schwierigkeiten und Problemen, vor die sie diese Pandemie stellt. Einige der Berichte möchte ich gern mit euch teilen.

Charlie hat ADHS und ist durch Morbus Crohn immunsupprimiert. Sie gehört also zur Risikogruppe, für die Covid 19 besonders gefährlich werden kann. Sie ist 30 und lebt in Deutschland. Um sich zu schützen ist sie bereits seit dem 13. März in Selbstisolation. 

Charlie erzählt, dass sie studiert und zusätzlich in einer Schule arbeitet.
Ihren neuen Alltag schildert sie wie folgt:

“Ich wache früh auf. Durch die Albträume (die ich früher zwar schon hatte, aber nicht so stark frequentiert) ist an erholsamen Schlaf nicht zu denken. Dann wird mein Hund versorgt. Oft sitze ich danach erstmal nur rum: Google, Twitter, Facebook Instagram – alles zum Thema COVID. Irgendwie hab ich den starken Drang up to date sein zu wollen. Vielleicht beruhigt das mich und ich hab ein bisschen das Gefühl von Kontrolle. Dann versuche ich zu essen. Irgendwann kommt ein Motivationsschub: ich putze oder koche. Eigentlich müsste ich für die Uni lernen. Aber da bin ich wie gelähmt. Weil ich weiß, dass ich da zu sehr abdrifte und 80% der Zeit nur an andere Dinge denke. Auch mit ADHS-Medikamenten ist das kaum in den Griff zu bekommen. Alles nicht so einfach, aber andere haben es schwerer.”

Charlie

Doch sie hat bereits Strategien etabliert, um mit der Selbstisolation, die sie gemeinsam mit ihrem Freund und ihrem Hund verbringt, besser zurechtzukommen:

„Das Gefühl, etwas nützliches zu tun, gebraucht zu werden: das treibt dann wieder an. Außerdem hab ich mir ein paar Bücher bestellt, Zeichenmaterial und Videospiele. Das lenkt auch immer gut ab, da ich dabei oft im Hyperfokus bin. Ich wünschte nur, das würde auch bei Uni-Sachen klappen. Aber vielleicht muss ich da einfach mehr strukturieren.”

Charlie

Auch Robert aus Deutschland sieht in der aktuellen Situation gute Seiten. Er arbeite in einem systemrelevanten Job, muss weiterhin täglich zur Arbeit fahren und ist autistisch:

„Die im Amt verbliebenen Menschen halten zusammen und im ÖPNV ist endlich mal Platz. Meine Mutter ist aus dem Krankenhaus raus, bevor da alles zusammenbricht. Und meine ganzen kleinen sozialen Distanzierungen kommen gerade relativ nützlich. Auf der Arbeit haben wir dank meiner Tendenz zum Vorräte aufbauen genug Reinigungsmittel, Spüli, Handwaschgel usw. für gefühlt ein halbes Jahr.“

Robert

Doch nicht alles ist einfach für ihn, berichtet er und erklärt mir:

“Die Leute außerhalb vom Amt haben irgendwie immer noch nicht kapiert, dass sie ihr Verhalten ändern müssen – und zwar nicht in Richtung MEHR zusammen machen, sondern in Richtung WENIGER aufeinander hängen. Und selbst die oberen Leute in den Ämtern haben das noch nicht komplett realisiert, dass wir in einer Art Notstandsmodus mit Minimalpräsenz überwechseln müssen.”

Robert

Die neurodiverse Lili teilte ihre persönlichen Erfahrungen der letzten Woche über Twitter mit mir und schreibt:

Noch nie wurde mir so klar vor Augen geführt dass ich seit Jahren, bzw seit ich denken kann, im Panikmodus bin.

Lili

Mit ihren folgenden Worte macht macht sie deutlich, wie herausfordernd der Alltag für neurodiverse Menschen schon vor der Covid-Krise war:

“Warum? Das was im Aussen gerade abgeht, das Gefühl von Machtlosigkeit, Kontrollverlust, Panik, etc. ist meine tägliche Lebenserfahrung als neurodiverser Mensch, der sein Leben lang versucht, sich an eine neurotypische Welt anzupassen und nicht aufzufallen. Und am besten so dass keiner was davon merkt. Worst-Case-Szenarien sind mein Alltag. Ich merke derzeit keinen Unterschied. Interessanterweise bin ich gerade der Fels in der Brandung für mein Umfeld.”

Lili

Lorenz ist Autist, lebt mit seiner Partnerin gemeinsam in Wien und erzählt folgendes:

“Auf meinen Arbeitsalltag hatte die Pandemie bislang wenig Einfluss; ich war davor auch schon häufig im Home Office, meine Arbeit lässt sich fast komplett vom Schreibtisch erledigen. Ob mir das Leute Treffen und physische Sozialkontakte abgehen, kann ich noch nicht so genau sagen, das kommt dann vielleicht erst in ein paar Wochen für mich klarer heraus. Bislang ersetzen wir halt Geburtstagsfeiern, Spieleabende etc. durch Videotelefonie.

Lorenz

Er spürt aber auch Einschränkungen:

Was mich jedenfalls subjektiv stört: Das Ausfallen regelmäßiger Veranstaltungen, insbesondere eines Kurses, den ich gemeinsam mit meiner Partnerin besucht habe/besuchen wollte. Wir haben den Kurs jetzt die letzten Jahre gemeinsam besucht, er ist aufbauend, und das letzte Semester (jetzt) wäre sich gerade noch gut vor ihrer Entbindung ausgegangen. Jetzt kann ich den letzten Kurs im Herbst alleine machen, oder gar nicht, oder irgendwann viel später mit ihr gemeinsam. Auch das Ausfallen des Fitness-Centers belastet mich, weil ich im Alltag ohnedies wenig Bewegung habe.

Auch schwierig finde ich das Ausverhandeln von Personal Space. Ich verbringe sehr viel Zeit am Computer, beruflich wie privat, was meiner Partnerin nicht so ganz recht ist, was sich aber entschärft hat, seitdem wir beide Vollzeit arbeiten und sie es nicht unmittelbar mitbekommt. Dadurch, dass wir jetzt dauernd daheim sind, habe ich Sorge, dass das wieder zu Konflikten führt.”

Lorenz

Der Softwareentwickler Mathias lebt und arbeitet in Österreich. Er ist Autist und berichtet davon, dass die Homeoffice-Anweisung bisher nur wenig Auswirkung auf seinen Arbeitsalltag hatte:

Bei mir hat die gesamte Situation nur relativ wenige Änderungen zum Normalzustand gebracht. Ich war es schon von der langen Arbeitslosigkeit gewohnt, viel allein zu sein – ich hatte damals meinen Tag in einen Arbeitsteil und einen Vergnügungsteil geteilt, und mich recht rigoros daran gehalten, einfach um irgendeine Struktur zu behalten. Unter Tags wurde an meinen diversen Projekten geschraubt, geplant und Ziele gesetzt.

Jetzt bin ich in einer kleinen Firma (<=5 Personen). Betriebsbedingt waren sowieso nie alle auf einmal da, und in meiner Rolle kommuniziere ich meist mittels E-Mail oder Slack. Das machen wir schon aus Geräuschpegelgründen – Softwareentwicklung benötigt Konzentration. Insofern war es kaum ein Unterschied für mich, als wir anfingen, von daheim aus zu arbeiten. Wir haben unseren täglichen Slack-Call. Ansonsten quasi business as usual, nur ohne Gestik und Mimik.

Mathias

Auch auf sein Privatleben geht Mathias kurz ein.

Abseits davon hat sich auch nicht viel geändert – social outings habe ich ohnehin nur selten besucht, sie waren bei mir fast immer mit ‚direkt nach der Arbeit‘ verknüpft. Die Mehrheit meines sozialen Lebens spielte sich auch bisher digital ab.

Ich vermisse allerdings tatsächlich die Möglichkeit ins Kino zu gehen. Und ab und an fühle ich mich isoliert – was aber eher ein Allgemeinzustand ist denn Resultat dieser speziellen Situation. So anstrengend Menschen für mich sind, bin ich ab und an doch sehr gerne in vertrauter Runde.

Mathias

Wie geht es euch mit der derzeitigen Ausgangsbeschränkung? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Was hat gut funktioniert und an welchen Stellen zeigten sich Herausforderungen? Ich freue mich sehr über eure Kommentare dazu.

2 Gedanken zu „Der Corona-Virus und COVID-19: Erfahrungsberichte mit der Ausgangsbeschränkung

  1. Ich bin Autist, bin verheiratet und wir haben zwei Kinder (8 und 3). Ich gehe nicht arbeiten, meine Frau kann aufgrund meiner Behinderung ebenfalls nicht arbeiten, nur die Kinder sind jetzt keinen halben Tag mehr in Schule/Kindergarten. Für uns sind die Veränderungen daher gering. Bis auf einige gemeinsame Spaziergänge, meist zu Eltern/Großeltern, machen wir nicht viel. Ich war in diesem Jahr zum Beispiel nur 2x außerhalb der Wohnung. Mich stören die Beschränkungen nicht. Ich finde sie vor allem wichtig. Meine Partnerin auch. Für sie ist es etwas schwieriger, weil sie das permanente Aufeinanderhocken nicht so schätzt. Da sie einkauft, kommt sie immer noch raus, aber auch da muss sie mit den Veränderungen zurecht kommen, was mal mehr und mal weniger leicht ist. Die Kinderbespaßung klappt bei uns gut, weil es nicht ungewöhnlich ist, dass die Kinder die meiste Zeit bei uns sind. Wir haben uns bereits vor Corona strikt an die Hygieneregeln gehalten und insbesondere ich, der das so gar nicht überspielen kann, wirkte da sicherlich oft merkwürdig. Jetzt ist es das neue Normal. Plötzlich gehen Dinge wie Home Office, Hände nicht schütteln und Kontakt per Mail ist sogar explizit erwünscht. Sonst sind das oft benötigte Nachteilsausgleiche, die angeblich nicht möglich sind. Ich persönlich betrachte die Situation sehr analytisch und überlege, welche Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit oder auch der wirtschaftlichen Folgen Sinn machen könnten. Während viele nicht mit den Entscheidern tauschen wollten, hätte ich damit gar kein großes Problem. Das klingt vielleicht komisch, aber es ist ja eine sachliche Abwägung aller bekannten Argumente und immer ergebnisoffen. Was heute gilt, kann schon morgen überholt sein. Ich finde den ganzen Themenkomplex, so dramatisch die Folgen auch sind, ziemlich spannend. Trotz des Bezugs von ALG II habe ich übrigens das Bedürfnis finanziell zu helfen, dort wo es nötig und für mich persönlich wichtig ist. Ich hoffe, dass den Menschen adäquat geholfen wird, dass wir nach der Krise einige Dinge beibehalten (Home Office, Kontaktaufnahme per Mail, weniger Bürokratie usw.), dass wir jetzt viele kreative Lösungen finden und vor allem, dass wir das Virus einigermaßen kontrollieren und unsere Krankenhäuser am Laufen halten können. Denn das sollte momentan unsere größte Sorge sein: Dass die Arbeiter im Gesundheitswesen überlastet und damit auch unsere Gesundheit, selbst bei vermeintlich kleinen Eingriffen (z.B. Blinddarm), gefährdet werden.

  2. Liebe Marlies,
    Danke für deine Tipps und Berichte. Ich arbeite in der Kinder-Jugendpsychiatrie und habe teilweise mit jungen Autistinnen und Autisten zu tun. Ich danke dir dafür meinen Blick zu schärfen und das Beste mit den besten Lösungen für die Jungen Menschen zu erreichen, bzw. Diese zu unterstützen. Dir alles Gute und pass auf Dich auf. Liebe Grüße Tatjana

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