Inklusion ist überlebensnotwendig

In Deutschland leben 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen, in Österreich sind es weitere 1,6 Millionen – in der Summe also 9,2 Millionen Menschen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt ist. Um sie teilhaben zu lassen, müssen sie in das soziale Leben und in das Berufsleben inkludiert werden.

Doch Inklusion von Menschen mit Behinderung gehört zu den aktuell umstrittensten Themen, wird oft für gescheitert erklärt und hat lang nicht die Dringlichkeit, die notwendig wäre. In Folge dessen fristen viele dieser Menschen in Parallelgesellschaften ein unselbstständiges Dasein, was immer wieder unangenehme oder gewaltvolle Situationen für sie entstehen lässt. 

Die Wichtigkeit von Inklusion

Dass Inklusion sogar überlebensnotwendig ist, wird uns in Studien immer wieder vor Augen geführt. 
Einer amerikanischen Studie zufolge ist zum Beispiel das Risiko eines Suizids bei autistischen Jugendlichen 28 Mal wahrscheinlicher – die Zahl verändert sich jedoch im Erwachsenenalter. Auch die britische Charity-Organisation Autistica, eine Partnerorganisation der von vielen Autist*innen abgelehnten amerikanischen Elternorganisation Autism Speaks, hat zur Lebenserwartung von Menschen mit Autismus geforscht und sich dabei auf eine schwedische Studie des Karolinska Instituts berufen.

Jon Spier, Geschäftsführer von Autistica, veröffentlichte im Juni 2016 die Ergebnisse mehrerer Forschungsarbeiten zur Lebenserwartung von Autist*innen. Die wichtigsten Fakten daraus sind erschreckend:

  • Autistische Menschen sterben im Durchschnitt 16 Jahre früher als die allgemeine Bevölkerung.
  •  Autist*innen mit einem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf werden durchschnittlich nur 39,52 Jahre alt.
  • Autistische Erwachsene mit einer Lernbehinderung sterben 40 Mal häufiger an neurologischen Erkrankungen, wobei Epilepsie die häufigste Todesursache ist.
  • Erwachsene Menschen mit Autismus und einer Lernbehinderung begehen 7,55 Mal häufiger Selbstmord.
  • Jene Autist*innen ohne Lernbehinderung begehen 9 Mal häufiger Selbstmord.

Die tödlichen Risikofaktoren

Autist*innen sterben dabei nicht an der Neurodiversität Autismus, sondern an den Komorbiditäten, also an eigenständigen und abgegrenzten Begleiterkrankungen. Das Risiko eines Suizids zum Beispiel steigt durch Komorbiditäten wie Depressionen, Angststörungen, PTBS, Traumata und Essstörungen. Mobbing, (sexuelle) Gewalt und berufliche wie soziale Perspektivlosigkeit haben darauf ebenfalls einen starken Einfluss. Faktoren also, die verändert werden können können. Doch tun wir das auch?

Therapie- und Lernmethoden wie ABA, AVT und andere behaviouristische Ansätze, die das autistische Sein möglichst unterdrücken wollen, unterstützen das Suizidrisiko, indem sie Komorbiditäten fördern. Autistischen Kindern wird vermittelt, falsch und unerwünscht zu sein, ihnen wird Zuneigung, Schlaf und Nahrung entzogen, bis sie ihre autistischen Bedürfnisse unterdrücken. Trotzdem setzen sich verschiedene Stellen für das flächendeckende Angebot von ABA ein. Der internationale Kampf von Autist*innen, Angehörigen und Fachkräfte gegen diese missbräuchlichen Methoden scheint oft aussichtslos.

Auch der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und die Behandlung physischer und psychischer Leiden ist für Autist*innen auf barrierefreie Art kaum möglich. Erkrankungen jedweder Art bleiben somit unerkannt und unbehandelt. Bei dem dauerhaft hohen Stresslevel, das die autistische Wahrnehmung mit sich bringt, ist dies äußerst besorgniserregend.

Statt das Potenzial Millionen schwerbehinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen, zeigen neueste Studien, dass diese in den Jobcentern diskriminiert werden. Ihre Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt sind, unabhängig von ihrer Qualifikation, oft sehr schlecht. Sie werden in Werkstätten gedrängt oder bleiben erwerbslos.

Das autistische Sein

Die natürlichen autistischen Verhaltensweisen und das Auslebendürfen der eigenen Persönlichkeit sind elementar für die psychische Gesundheit autistischer Menschen, die gemeinsam mit anderen Menschen mit Behinderung einen normalen Teil der Gesellschaft bilden. Die Akzeptanz autistischer Personen im privaten Umfeld sowie im beruflichen Kontext ist zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensqualität dringend notwendig. Autist*innen haben wie alle Menschen das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit, nach einer Arbeit, einer Partnerschaft, nach Freunden.

Auch, wenn diese Bedürfnisse sich anders zeigen oder eine andere Intensität haben, sind nicht weniger wichtig. Ihnen muss Aufmerksamkeit gewidmet werden und Autist*innen müssen die Möglichkeit haben, ihnen nachzugehen, müssen die Möglichkeit eines erfüllten Lebens haben, wie jeder andere Mensch auch. Unterstützende Hilfen, Inklusion und Akzeptanz sind unerlässlich dafür. Wir dürfen Autist*innen nicht weiter erzählen, sie seien falsch oder schlechter als andere Menschen und müssen sich an eine vermeintliche Normalität anpassen.

Inklusion, also die soziale Akzeptanz jedes Individuums, ist in dem völkerrechtlichen Vertrag der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeschrieben. Mit ihr trat 2008 die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung ein. Doch die Umsetzung ist bis heute, 9 Jahre später, mangelhaft – ein Versäumnis, das Leben kostet.

Ein Gedanke zu „Inklusion ist überlebensnotwendig

  1. Guten Morgen und hallo zusammen,

    ……. und dazu gehört ebensfalls eine barrierefreie Begutachtung, wie das Bundessozialgericht bereits 2013 in einem 2017 veröffentlichten Verfahren beschlossen hat.
    Es ist ein Erfolg in dem Sinne, dass es einem Einzelnen, zu seinem Recht verholfen hat und dies wiederum die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärkt.
    Und – ein kleiner Schritt, wenn auch gerichtlich durchgesetzt und nicht auf Basis eines menschlich freiwilligen respektvollen Umgangs miteinander, auf dem Weg zur Inklusion.

    http://rollingplanet.net/klaeger-mit-asperger-autismus-darf-barrierefreie-begutachtung-verlangen/

    Viele Grüße

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